Es war der 1. Weihnachtstag, mit dem für das Rheinland üblichen
Weihnachtswetter: regnerisch und viel zu mild. Die junge Frau, die gegen
halb zehn die Kirche betrat, hatte die Kapuze ihrer Outdoorjacke tief ins
Gesicht gezogen. Georg bemerkte ihr Eintreten nicht; er saß an der
Orgel und war in sein Spiel vertieft. Aber selbst wenn die Orgel geschwiegen
hätte, wäre sie seiner Aufmerksamkeit vielleicht entgangen, so
leise öffnete sie die Tür und stahl sich hindurch.
Die Kirche war ansonsten leer. Der Abendgottesdienst war
seit sicher einer Stunde vorüber, längst war auch der letzte
Besucher nach Hause gegangen. Aber die Aussicht, hinter den Gottesdienstbesuchern
her aus der warm erleuchteten Kirche in die nasse und dunkle Welt herauszutreten,
in der nichts außer einer kleinen, einsamen Wohnung auf ihn wartete,
hatte Georg abgeschreckt: Es war schließlich Weihnachten. Und irgendwie
schien es ihm diesem Fest angebrachter, noch eine Weile zu bleiben und
zu improvisieren, als einfach heimzugehen wie nach Beendigung jeder x-beliebigen
Arbeit – auch wenn sein heutiger Dienst eigentlich nur die Begleitung des
Gottesdienstes vorgesehen hatte. Also saß er nun hier und füllte
die Weite des Kirchenschiffs mit den vollen, alles umfassenden Klängen
der Orgel, ließ sie an- und wieder abschwellen wie ein bewegtes Meer,
in dem er sich mehr zu Hause fühlte als in den engen vier Wänden
seiner Wohnung.
Die Frau war am Eingang stehen geblieben, nachdem sie
die Tür behutsam hinter sich geschlossen hatte. Sie lauschte ohne
eine Bewegung. Dann machte sie so vorsichtig, als habe sie Angst, allein
durch ihre Anwesenheit etwas zu zerstören, einige Schritte und ließ
sich langsam auf einer der hinteren Kirchenbänke nieder.
Georg bemerkte eine Regung in dem Spiegel zu seiner Rechten,
der es ihm ermöglichte, das Geschehen unten im Hauptschiff im Blick
zu behalten. Ohne sein Spiel zu unterbrechen, schaute er genauer hin. Er
konnte sie gut sehen: Sie hatte die Kapuze ihres Anoraks jetzt abgestreift,
saß sehr gerade und schaute vor sich ins Leere. Eigentlich sah sie
nicht aus wie die Obdachlosen, die sich im Winter hier drinnen aufzuwärmen
pflegten und dabei, wenn er gerade da war und übte, seinem Spiel lauschten;
ihre Kleidung wirkte gepflegter und sauberer und ihre Haare frisch gewaschen.
Jemand wie sie sollte an einem solchen Tag zu Hause sein, dachte er sich,
bei ihrer Familie, falls sie denn eine hatte, und wenn nicht, dann wenigstens
mit Freunden zusammen. Aber dass sie so allein hier in der Kirche herumsaß,
das passte nicht.
Er spielte noch einige Minuten in dem Bewusstsein, dass
er jetzt eine Zuhörerin hatte. Dann ließ er die Melodie in ein
Diminuendo münden und sanft im Piano ausklingen. Besser, das Mädchen
merkte gleich, dass ihr Platz nicht hier war, sondern in einem warmen Zimmer
bei Menschen, die ihr wichtig waren.
Sie schaute auf, als die Orgel verstummte. Georg sah es
im Spiegel und drehte sich um.
Ihr Blick ruhte auf ihm, als er von der Orgelbank aufstand.
Er erwartete, dass sie irgend etwas sagte, aber das geschah nicht, und
er war etwas unschlüssig, was er nun tun sollte. Einfach die Empore
und die Kirche zu verlassen erschien ihm falsch. Er hatte ihr ja dadurch,
dass er seine Improvisation mit einer klaren Absicht beendet hatte, eine
Botschaft übermittelt, und sie hatte mit ihrem Blick auch darauf reagiert.
Diese begonnene Kommunikation konnte er nicht so einfach in der Luft hängen
lassen.
Mit einer energischen und dadurch, wie er hoffte, endgültig
wirkenden Geste nahm er die Notenblätter, die er für den Gottesdienst
benötigt hatte, von der Ablage und packte sie in seine Tasche. Dann
nahm er seinen Mantel, klemmte die Tasche unter den Arm und stieg die Treppe
ins Kirchenschiff hinab. Unten angekommen, stellte er fest, dass sie ihn
noch immer unverwandt ansah.
„War das Bach?“ fragte sie. Obwohl sie leise sprach, trug
der Raum zwischen den steinernen Bögen des Kirchenschiffs ihre Stimme
klar und klangvoll.
Er setzte seinen Weg in Richtung Kirchentür fort,
ihr entgegen. „Nein“, entgegnete er, automatisch in dem selben halblauten
Ton, den auch sie angeschlagen hatte. „Nur an Bach angelehnt. Das war einfach
so improvisiert.“
„Warum haben Sie aufgehört?“ erkundigte sie sich.
Auf ihrer Höhe angekommen, ließ sich Georg
samt Mantel und Tasche auf der Bank vor ihr nieder, um Zeit zu gewinnen.
Ihr Blick hing nach wie vor an ihm. Es kam ihm so vor, als hätte sie
die ganze Zeit, seit er seinen Platz auf der Orgelbank verlassen hatte,
nicht ein einziges Mal geblinzelt. „Ich habe Feierabend“, erklärte
er. „Der Gottesdienst ist schon lange vorbei. Ich gehe nach Hause, und
da sollten Sie auch hingehen – zu Ihrer Familie, Ihren Freunden, mit wem
auch immer Sie gern zusammensein wollen. Es ist Weihnachten.“
Zu seiner Überraschung lächelte sie. „Aber ich
komme gerade von meiner Familie. Ich bin auf dem Weg nach Hause hier an
der Kirche vorbeigekommen. Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin nicht
das einsame, verlassene Wesen, für das Sie mich vielleicht halten.
Ich wollte nur gerade mal ein bisschen Ruhe und –“ sie hielt kurz inne
– „und Frieden erleben.“ Nach einer weiteren Pause fügte sie hinzu:
„Sie können sich vielleicht vorstellen: Familie kann ziemlich anstrengend
sein, besonders zu Weihnachten.“
Georg hatte den Heiligabend bei seinen Eltern verbracht.
Und er war froh, dass er für die Feiertage als Organist verpflichtet
war und den Besuch deswegen nicht hatte verlängern können. Er
wusste also sehr gut, wovon sie sprach.
„Und Sie meinen, dass sie den Frieden hier finden?“ fragte
er. Es war eine durchaus ernst gemeinte, keine rhetorische Frage, aber
er war nicht ganz sicher, ob das auch so ankam, denn sie sah ihn nur weiterhin
an und fragte zurück: „Wo sonst?“
„Na ja, ich meine –“ sagte er, „sind Sie denn gläubig?“
Eigentlich hatte er das überhaupt nicht so direkt
fragen wollen. Es ging ihn nun wirklich nichts an, er kannte sie ja nicht
einmal, sie hätte also jedes Recht, entrüstet über diese
Frage zu sein. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie sah fast schuldbewusst
aus, als sie antwortete: „Ehrlich gesagt, nein. Nicht im christlichen Sinne.
Ich bin nicht mal getauft.“
Es lag ihm auf der Zunge, zu fragen: „Und was machen Sie
dann hier?“ Aber diesmal hielt er sich zurück und bemerkte statt dessen:
„Viele Leute sind getauft und würden trotzdem nicht freiwillig in
eine Kirche gehen.“
Sie zuckte die Achseln. „Es muss wohl jeder für sich
selbst entscheiden, was ihm eine Kirche bedeutet. Ich finde manchmal Frieden
darin, obwohl mir der Ritus, für den sie gebaut sind, eigentlich fremd
ist. Aber das empfindet sicher nicht jeder so.“
Sie schwieg, und er wusste nichts zu sagen. Er ertappte
sich dabei, sich zu fragen, was für ein Ort die Kirche denn eigentlich
für ihn selbst sei. Sie gehörte untrennbar zu seinem Leben, die
Orgel war sein Beruf, vielleicht sogar seine Berufung. Aber sonst? War
er Kirchenmusiker geworden, weil ihm die Kirche Frieden spendete?
„Sind Sie hier fest angestellt?“ unterbrach sie seinen
inneren Monolog.
„Ja“, sagte er, „ich bin hier Kantor. Es ist aber nur
eine halbe Stelle. Ich spiele auch noch in anderen Kirchen.“
„Sie sind zu beneiden“, meinte sie. „Ihr Beruf ist Musik
– und ihr Arbeitsplatz ist ein Ort des Friedens.“
„Es ist ein Beruf wie jeder andere“, entgegnete er etwas
verlegen. „Ich habe Kirchenmusik studiert, weil ich gut Orgel spiele. Das
heißt aber nicht, dass ich mich in jeder Hinsicht mit der Kirche
verwachsen fühle. Und das Üben kann auch einfach nur verdammt
lästige Arbeit sein ...“
„Aber sie geben den Leuten so viel“, sagte sie leise.
„Sie spielen, und der Ort des Friedens wird zu einem Ort der Schönheit.
Ohne Musik ist auch eine Kirche nur ein Ort. Mit Musik ist sie irgendwie
viel mehr.“
Einen Moment lang dachte er mit einem plötzlichen
Schreck, dass er eine durchgeknallte Esoterikerin vor sich habe, die sich
gerade in einen Zustand der Ekstase redete. Er hatte Ähnliches schon
erlebt. Das war eine der Begleiterscheinungen seines Berufs, die er hasste.
Aber er korrigierte diesen Eindruck schnell. Das Mädchen sah nicht
so aus, als wolle sie ihn auf unangenehm penetrante Weise von irgendeiner
verrückten transzendenten Erfahrung überzeugen; sie hatte vielmehr
wieder diesen etwas schuldbewussten Ausdruck, so als fürchte sie,
dummes Zeug erzählt zu haben. Er stellte fest, dass gerade das sie
glaubwürdig machte.
„Sind Sie deshalb gekommen?“ fragte er. „Wegen der Musik?“
Sie hatte jetzt den Blick nicht mehr auf ihn geheftet,
sondern schaute nach oben zur Orgelempore. „Hauptsächlich“, gab sie
zu. „Ich habe ... also, es klingt sicher ziemlich albern, aber ich wollte
einfach richtig Weihnachten erleben. Und als ich die Orgel von draußen
gehört habe, war mir klar, dass hier drinnen Weihnachten ist.“ Sie
flüsterte jetzt beinahe, er musste sehr genau hinhören, um sie
zu verstehen. „Ich habe zwar großes Glück, eine Familie zu haben,
und Freunde, und Weihnachten nicht allein sein zu müssen; das hab
ich Ihnen ja schon erzählt. Und ich weiß auch, was für
ein riesiges Glück das ist. Aber gerade eben war das erste Mal, dass
ich gewusst habe, was Weihnachten ist.“
Georg hielt den Atem an. Was auch immer er jetzt gesagt
hätte, es hätte die Kraft ihrer Worte zunichte gemacht.
Einige sehr lange Momente verstrichen, ehe sie in normalem
Tonfall sagte: „Ich glaube, jetzt muss ich auch gehen. Und Sie können
endlich Feierabend machen und Ihr Weihnachten genießen. Tut mir leid,
dass ich Sie so lange aufgehalten habe. Und – danke.“
Sie erhob sich. Der weiche Schein der Kerzen und indirekt
leuchtenden Lampen, die die Kirche erhellten, fing sich in ihrem Haar und
brachten ihre Augen zum Strahlen. Georg stand ebenfalls auf. „Keine Ursache“,
sagte er und hatte das Gefühl, dass er nichts Unpassenderes hätte
sagen können.
Die Kirchentür fiel hinter ihr ins Schloss, und er
war allein. Aber in der tiefen Stille, die ihn nun umfing, wurde ihm klar,
dass auch für ihn gerade zum ersten Mal wirklich Weihnachten war.
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