Das Urteil lautete LEBENSLÄNGLICH FREI.
Das kann doch gar nicht so schlimm sein, dachte der Verurteilte.
Das heißt, dass ich leben kann. Leben!
Leben, wie ich will.
Der Verurteilte trat aus dem Gerichtsgebäude. Er
sah die Sonne, Wolken, Vögel. Er dachte: Auch die Vögel sind
frei. So frei wie ich.
Er ging ein paar Schritte und genoss es, frei zu sein
und zu leben. Seine Schritte waren frei. Sein Gang war frei. Er dachte:
Niemand bestimmt über mich als nur ich selbst. Er probierte es aus.
Er dachte: Ich gehe ein paar Schritte zurück, und ging ein paar Schritte
zurück. Das war so, wie es dem Urteil entsprach. Er war frei, und
das sein Leben lang. Niemand konnte etwas dagegen tun, und das ist gut
so, dachte er, ich bin frei, weil ich dazu verurteilt worden bin, und niemand
kann sich dem Urteil widersetzen und mir die Freiheit zu rauben versuchen,
das wäre gegen das Gesetz.
Der Verurteilte fühlte sich zufrieden. Er war frei
und konnte tun, was er wollte, also beschloss er weiterzugehen und ging
weiter.
Er wusste nicht, wie lange er schon so gegangen war und
seine Freiheit genossen hatte, als plötzlich ein Gedanke in ihm aufstieg,
der seine Zufriedenheit störte. Der Verurteilte dachte: Wohin gehe
ich?
Die Frage an sich ist kein Problem, dachte der Verurteilte
weiter und versuchte zu begreifen, warum sie trotzdem inmitten seiner Zufriedenheit
so negativ auffiel. Die Frage ist kein Problem, denn ich kann sie beantworten.
Ich kann zum Beispiel antworten: Ich gehe nach Hause. Oder: Ich gehe jemanden
besuchen. Oder auch: Ich gehe einfach nur so spazieren, ohne ein bestimmtes
Ziel. Ich bin frei.
Was sollte er also antworten?
Jede Antwort ist richtig, dachte der Verurteilte, denn
ich kann überallhin gehen. Da ich frei bin, gibt es keinen Ort, an
den ich nicht gehen kann. Also gibt es auch keine falsche Antwort auf die
Frage „Wohin gehe ich?“
Der Verurteilte freute sich darüber, dass es keine
falsche Antwort gab. Ich kann alles Mögliche tun, dachte er, und nichts
wird falsch sein, denn ich bin frei. Ich kann zum Beispiel auch das Haus
da vorne kaufen. Wenn ich mich frage: Soll ich das Haus kaufen?, dann kann
ich mit ja antworten, und es wird keine falsche Antwort sein, denn ich
bin frei. Allerdings kostet ein Haus bestimmt eine Million.
Der Verurteilte hatte keine Million, aber er dachte, ich
kann einen Kredit aufnehmen und das Haus kaufen, wenn ich mich dafür
entscheide. Es gibt keine falsche Entscheidung, und wenn ich eine Entscheidung
treffe, so ist sie auch ausführbar.
Das also ist Freiheit! dachte der Verurteilte und freute
sich darüber.
Da aber fiel ihm wieder ein, dass ihn vorhin die Frage
„Wohin gehe ich?“ so gestört hatte, und er vergaß das Haus,
das er ohnehin nicht ernsthaft zu erwerben beabsichtigte. Der Verurteilte
dachte über die Frage nach und sagte sich: Die Frage hat mich völlig
grundlos gestört, so etwas kann vorkommen; auf diese Frage gibt es
keine falsche Antwort, aus welchem Grund sollte sie mich also stören?
Ich sollte mich darüber freuen, denn über eine Frage, zu der
jede Antwort richtig ist, würde sich jeder Mensch freuen. Die anderen
Menschen, so dachte der Verurteilte, haben viele und große Probleme
damit, unter allen Antworten die richtigen zu finden, und haben oft Angst,
sie könnten eine falsche erwischen. Ich aber, ich kann jede Antwort
geben, und sie wird nie falsch sein.
Und wenn ich, fragte sich der Verurteilte plötzlich
erschrocken, die Antwort gebe: Ich gehe zur Brücke und stürze
mich in den Fluss? Auch diese Antwort wäre richtig!
Schon glaubte er die Problematik klar erkannt zu haben,
die ihm so intuitiv aufgefallen war. Aber rasch fiel ihm wieder eine Beschwichtigung
ein: Das ist doch Unsinn, ich würde nicht auf die Brücke gehen
und hinabspringen, weil ich weiß, dass ich anschließend tot
wäre. Schließlich bin ich ein Mensch und verfüge über
gesunden Menschenverstand. Auf die Frage danach, wohin ich gehe, mag es
zwar keine falsche Antwort geben, aber zu einigen sagt mir mein gesunder
Menschenverstand, dass sie nicht besonders sinnvoll für mich sind.
Der Verurteilte war sehr stolz, das Problem so schnell
gelöst zu haben – leider jedoch nicht sehr lange, denn schon nach
einem Augenblick wurde ihm klar, dass dadurch sofort ein weiteres entstand.
Er fragte sich nämlich: Woher weiß ich aber, was sinnvoll für
mich ist?
Im Falle der Brücke ist es klar, dachte der Verurteilte
und musste sich bemühen, das Ziel, das er mit seinen Betrachtungen
verfolgte – was ist es denn überhaupt? dachte er einen Moment lang
verwirrt, sagte sich dann aber, dass ihn diese Frage zu weit davon abbringen
würde –, nicht aus den Augen zu verlieren. Er hätte sich niemals
träumen lassen, dass die Freiheit mit derartigen Problemen verbunden
wäre. Im Falle der Brücke ist es deswegen klar, weil ich die
Konsequenzen kenne. Ich kann auf die Frage „Wohin gehe ich?“ aber auch
Antworten geben, zu denen mein gesunder Menschenverstand nicht sofort eine
Sinnkategorie parat hat. Wenn ich zum Beispiel antworte: Ich gehe in den
Park, so wird mein gesunder Menschenverstand dem nichts entgegenzusetzen
haben; und wenn ich, dadurch ermutigt, mich auf den Weg mache und im Park
angelangt bin, kommt vielleicht ein tollwütiger Hund angeschossen,
beißt mich, und ich habe die Tollwut. Auch das wäre nicht gerade
sinnvoll für mich, aber selbst mein gesunder Menschenverstand hätte
das nicht vorher erkennen können!
Möglicherweise, fiel dem Verurteilten siedend heiß
ein, entscheide ich mich zwar unter Berücksichtigung meines gesunden
Menschenverstandes dazu, in den Park zu gehen, komme aber nicht einmal
bis dorthin, weil mich unterwegs ein herunterfallender Ast auf den Kopf
trifft ... oder ein Auto überfährt ... und all das kann nicht
ich, nicht mein gesunder Menschenverstand, kann überhaupt nichts und
niemand vorhersagen!
Der Verurteilte war so erschrocken über diesen Gedanken,
dass er keinen weiteren Schritt zu tun wagte. Er blieb stehen. Sein Blick
wanderte nach oben gen Himmel, so als wäre dort eine Lösung zu
finden. Aber es zogen nur einige Vögel vorüber.
Woher, dachte der Verurteilte verzweifelt, wissen die
Vögel, wohin sie fliegen sollen?
Doch die Vögel gaben keine Antwort, und zum ersten
Mal spürte der Verurteilte die Härte seines Urteils mit voller
Kraft. Im Nachhinein weiß man immer besser, ob das, was man getan
hat, sinnvoll gewesen ist oder nicht, dachte er. Das Problem ist, dass
man es nicht im Voraus wissen kann. Offenbar kann es jederzeit passieren,
dass man denkt, man handle gut und sinnvoll, und in Wirklichkeit gerade
einen schlimmen Fehler macht.
Vielleicht denke ich unter ganz falschen Gesichtspunkten?
überlegte der Verurteilte, während er immer noch an derselben
Stelle stand – denn er wagte nicht weiterzugehen, bevor er das Problem
der richtigen Entscheidung gelöst hatte. Vielleicht ist „sinnvoll“
nicht der richtige Maßstab, nach dem ich meine Entscheidungen abwägen
sollte. Irgendwie muss es doch schließlich möglich sein, zu
bestimmen, ob das, was man tut, richtig oder gut oder sinnvoll ist, oder
eben nicht! Denn dass es die falsche Entscheidung doch geben muss, obwohl
ich frei bin, ist aufgrund der Auswirkungen einer Handlung offensichtlich.
Der Verurteilte seufzte, denn ihm fiel nichts mehr dazu
ein. Einen Moment lang überlegte er, ob er vielleicht jemanden fragen
sollte, aber er verwarf diese Idee sofort wieder; wie hätte es denn
auch ausgesehen, wenn er einfach einen wildfremden Menschen auf der Straße
angesprochen hätte mit den Worten: „Entschuldigen Sie, könnten
Sie mir sagen, nach welchen Kriterien ich meine Handlungen und Entscheidungen
als richtig oder falsch zu beurteilen habe?“ Die Leute hätten ihn
wahrscheinlich für verrückt gehalten.
Außerdem, kam dem Verurteilten gleich darauf in
den Sinn, wäre jeder Ratschlag, jeder noch so kleine Einfluss eines
anderen gegen das Urteil, da meine Freiheit dadurch eingeschränkt
würde.
Der Verurteilte fühlte nichts als dumpfe Verzweiflung.
Er spürte fast körperlich die Last der Freiheit, die ihn niederdrückte.
Unsinn, dachte er, als ihm dies bewusst wurde, so ein Unsinn, die Freiheit
als Last zu empfinden! Er atmete ein paarmal tief durch und schaffte es,
seinen Optimismus soweit wieder herzustellen, dass er einigermaßen
ruhig und vernünftig weiterdenken konnte. Ich habe einfach nur noch
nicht den richtigen Maßstab, das richtige Kriterium gefunden, aber
das kann ja nicht so schwer sein, ich muss mir nur Zeit lassen! Das ist
alles. Wenn ich weiter überlege, wird es mir schon klar werden, und
dann sind alle Probleme gelöst.
Gerade war der Verurteilte noch damit beschäftigt,
seinen Kopf freizubekommen, um in Ruhe und ohne von unnützen Gefühlen
beeinflusst zu werden weiterüberlegen zu können, da sah er in
einiger Entfernung einen Mann mit einem Gewehr. Der Anblick lenkte ihn
ab und fesselte ihn. Er sah den Mann die Waffe gen Himmel richten, lange
zielen und dann – peng! – einen Schuss abgeben. Zuerst wunderte er sich,
denn der Schuss schien ins Nichts gerichtet zu sein; dann entdeckte er,
dass nicht weit von ihm ein Vogel getroffen zu Boden stürzte. Der
Verurteilte hätte vor neuerlichem Schreck fast aufgeschrien. Da haben
wir es! klagte er im Stillen. Habe ich mich nicht eben noch darüber
gefreut, so frei zu sein wie ein Vogel? Wer sagt mir nun, dass mir nicht
ein ebensolches Schicksal widerfährt wie diesem hier?
Die Freiheit, dachte er, die Freiheit ist tödlich!
Der Verurteilte spürte jetzt Panik. Er war versucht,
einfach davonzulaufen, irgendwohin, so schnell er nur konnte, um sich der
Härte des Urteils instinktiv zu entziehen; aber er wusste natürlich,
dass das nicht möglich war. Das Urteil war nun einmal gesprochen und
vollstreckt. Aber die späte Erkenntnis seiner Grausamkeit war sehr
schmerzhaft. Er wimmerte leise, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Unterdessen war ein Polizist aufgetaucht, der zielstrebig
auf den Mann mit dem Gewehr zulief. „He, Sie!“ rief er schon von weitem.
„Sagen Sie, können Sie nicht lesen?! Hier ist der Gebrauch von Schusswaffen
verboten. Es stehen doch genug Schilder überall.“
Doch der Mann mit dem Gewehr blieb ganz ruhig. „Sie können
mir viel erzählen“, entgegnete er dem Polizisten, der inzwischen herangekommen
war, gelassen. „Ich bin frei zu tun und zu lassen, was ich will.“
„Aber nicht, wenn Sie gegen das Gesetz handeln!“ zürnte
der Polizist. „Sie haben widerrechtlich geschossen, und deshalb sind Sie
hiermit festgenommen.“ Und damit klickte auch schon ein Paar Handschellen
an den Handgelenken des Mannes.
Der Verurteilte verstand jetzt gar nichts mehr. „Ich bin frei“, hatte
der Mann mit dem Gewehr gesagt. Womöglich war auch er ein Verurteilter.
Und trotzdem wurde er festgenommen, das hieß, seiner Freiheit beraubt
– auf der Grundlage derselben Gesetze, vermittels derer er, der Verurteilte,
selbst verurteilt worden war. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Aber
es zeigte nur um so stärker, wie schwer das Urteil war: Frei zu sein
bedeutete nicht etwa, dass man ganz beliebig alles tun konnte, wozu man
Lust hatte. Es bedeutete absolutes Ausgeliefertsein.
Als er zu dieser Schlussfolgerung gelangt war, begriff
der Verurteilte, dass er sein Urteil annehmen musste.
Der Mann mit dem Gewehr hatte es getan. Er hatte seine
Freiheit gelebt, aber er hatte auch die Konsequenzen getragen, als das
Urteil mit anderen Gesetzen kollidierte. Vielleicht ging es, wenn man frei
war, gar nicht um Maßstäbe, nach denen man sein Handeln ausrichten
musste; vielleicht ging es nur darum, zu erkennen, dass das Urteil nicht
absolut sein konnte.
Der Verurteilte nahm einen tiefen Atemzug, und dann wagte
er endlich wieder, einen Schritt zu machen.
(1994-2002)
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