25. September
Seit zwei Wochen sehe ich ihn morgens im Park. Er kommt mir kurz vor
dem Ententeich entgegen und geht genau denselben Weg wie ich, nur natürlich
in die andere Richtung. Eigentlich seltsam, dass ich ihn früher nie
getroffen habe. Es muss wohl daran liegen, dass ich früher nie zu
spät zur Schule gekommen bin. Als ich ihn das erste Mal traf, war
ich zum ersten Mal zu spät dran, weil ich verschlafen hatte, was vorher
noch nie passiert war. Seitdem bin ich probeweise noch öfter verspätet
losgegangen, und tatsächlich – immer dann traf ich ihn.
Eigentlich hasse ich es, zu spät zur Schule zu kommen, aber inzwischen
ist es fast genauso schlimm, pünktlich zu sein, weil ich ihm dann
nicht begegne.
Er ist der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Alles an ihm
ist korrekt und gepflegt und gut aussehend: seine Haare, sein Gesicht –
sein Gesicht, das mich bis in den Schlaf verfolgt! –, sein Anzug, seine
Schuhe und sogar seine Aktentasche. Wenn es kälter wird, wird er wohl
einen Mantel tragen. Ich wünschte, er würde mich bemerken, es
muss einem doch auffallen, wenn man jeden Morgen oder zumindest fast jeden
Morgen auf dem Weg zur Arbeit derselben Person begegnet. Aber er sieht
immer nur starr geradeaus.
Wenn er mich wenigstens einmal anschauen würde.
30. September
Er ist tatsächlich pünktlich wie die Uhr. Ich muss genau sieben
Minuten zu spät von zu Hause weggehen, um ihn an der Ecke vor dem
Ententeich zu treffen; das ist die beste Stelle, weil ich ihm dann noch
lange hinterherschauen kann. Wenn ich fünf Minuten zu spät losgehe,
sehe ich ihn gar nicht, weil ich dann schon an dieser Ecke vorbei bin,
wenn er auftaucht. Er kommt von links, und ich muss geradeaus weitergehen.
Natürlich war ich in den letzten Tagen immer zu spät in der
Schule. Die Englischlehrerin hat heute gefragt, was denn los sei, das sei
man von mir gar nicht gewohnt. Ob ich irgendwelche Probleme zu Hause hätte?
Aber ich habe nur an ihn gedacht und den Kopf geschüttelt.
Ich male mir gern aus, wie sein Leben wohl aussieht, seine Wohnung,
seine Arbeit, seine Hobbys und so weiter. Von seiner Wohnung habe ich schon
eine ziemlich genaue Vorstellung. Sie muss natürlich zu ihm passen,
also schön und gepflegt aussehen. Ich denke, dass er weiße Möbel
und weiße Teppiche hat, weil Weiß so empfindlich ist und man
jedes Staubkörnchen darauf sehen würde, aber es gibt natürlich
keinen Staub. Dann hat er impressionistische Gemälde an den Wänden
hängen, damit es bei all dem Weiß auch etwas Farbiges gibt.
Und im Schlafzimmer hat er ein großes, breites Bett mit einer Satindecke.
Was sein Beruf ist, weiß ich noch nicht genau, aber es ist sicher
etwas Besonderes, womit man viel Geld verdient.
Und dann muss er auch noch Klavier spielen können. Gestern habe
ich auf seine Hände geachtet, sie sind schmal und edel geformt, und
Klavierspielen ist so romantisch. Ich stelle mir vor, wie er abends nach
der Arbeit am Klavier sitzt und ruhige Melodien spielt, um sich zu entspannen.
In seiner Wohnung ist sicher noch Platz für einen weißen Flügel.
1. Oktober
Mir ist eingefallen, dass er auch noch jemanden braucht, der seine weiße
Wohnung saubermacht (denn er hat ja selbst keine Zeit). Er hat natürlich
eine Putzfrau. Nein, eine Haushälterin, die tagsüber putzt, während
er weg ist, und ihm abends das Essen kocht. Er kennt sie schon lange, sonst
würde er sie nicht in der Wohnung allein lassen.
7. Oktober
Ich bin so verliebt, dass es mich fast wahnsinnig macht. Dabei passiert
überhaupt nichts. Jeden Morgen nähere ich mich pünktlich
der Ecke vor dem Ententeich, habe schreckliches Herzklopfen, denke nur
daran, dass er mich vielleicht, vielleicht gleich zum ersten Mal anschauen
wird – und er biegt um die Ecke, während ich beinahe ohnmächtig
werde, sieht geradeaus und geht mit schnellen Schritten an mir vorbei.
Nichts. Jeden Morgen das gleiche.
Ich glaube, ich werde verrückt, wenn nicht bald irgend etwas geschieht.
Er müsste ja nur über einen kleinen Stein stolpern, sodass
er einen Schritt in meine Richtung machen würde. Vielleicht würde
er mich mit dem Ärmel streifen. Oder er würde mich anrempeln
und „Entschuldigung!“ sagen ... Ich darf gar nicht daran denken.
Ob ich einen Stein auf den Weg legen soll, an die Stelle, wo er unmittelbar
neben mir ist?
Nein, das geht gar nicht. Wenn ich es am Nachmittag auf dem Heimweg
tun würde, wäre der Stein am nächsten Morgen längst
weg. Und morgens müsste ich ihn bereitlegen, nochmal zurückgehen
und von neuem auf die Ecke zulaufen, damit er nichts merkt. Umständlich.
Außerdem, nicht auszudenken, was wäre, wenn mich jemand dabei
beobachten würde.
Mir bleibt eigentlich nur, ihn selbst anzurempeln. Oh Gott! Bei der
bloßen Vorstellung bleibt mir das Herz stehen. Aber es würde
sowieso nicht funktionieren. Ich wäre so aufgeregt, dass er sofort
merken würde, dass es Absicht ist – oder, noch schlimmer, ich könnte
auch alles vermasseln und einfach über meine eigenen Füße
stolpern und lang hinfallen.
Andererseits müsste er mir dann aufhelfen ...
Nein, ich sollte solche Gedanken gar nicht erst anfangen zu denken.
Ich werde Geduld haben, jedenfalls versuche ich es. Vielleicht ist das
Schicksal ja eines Tages gnädig und legt von sich aus einen kleinen
Stein genau an die richtige Stelle.
10. Oktober
Ich bin dazu übergegangen, die erste Schulstunde ausfallen zu lassen,
denn allmählich wird es peinlich, dass ich jeden Tag sieben Minuten
zu spät komme. Sogar die Lehrer haben gelacht oder zumindest gelächelt,
wenn ich kam, als der Unterricht schon im Gange war. Manche wurden aber
auch immer wütender, und ich wusste nichts zu sagen, wenn sie mich
nach dem Grund für mein Zuspätkommen fragten.
Ab jetzt lasse ich mir jedenfalls Zeit und schaue ihm nach, bis ich
ihn nicht mehr sehen kann, und dann bleibt mir noch eine halbe Stunde,
in der ich den Enten zusehen und an ihn denken kann.
In der Schule denken sie wohl, ich hätte irgendeine Art von Schlafkrankheit
oder so etwas. Hinter meinem Rücken lachen sie über mich. Aber
es macht mir nichts aus.
11. Oktober
Heute ist es genau einen Monat her, dass ich ihn das erste Mal getroffen
habe. Ich hatte gehofft, dass zur Feier dieses Tages irgend etwas passieren
würde, aber damit war es natürlich nichts.
Ich glaube, ich weiß jetzt, was er von Beruf ist: der Chef einer
Werbeagentur. Das ist so etwas Tolles, Modernes, was jeder gern sein will.
Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr passt es zu ihm. Eigentlich
hat er ja so viel Geld, dass er sich ein Luxusauto leisten könnte,
um damit zur Arbeit zu fahren. Ich denke, er hat auch eins, aber er geht
zu Fuß, um fit zu bleiben. Außerdem denkt er natürlich
an die Umwelt. Er benutzt das Auto nur, wenn er in Urlaub fährt oder
seine Eltern besuchen. Oder auf eine Geschäftsreise.
14. Oktober
Heute war ein schulfreier Tag. Das was natürlich in erster Linie
ärgerlich, weil ich ihn dadurch nicht sah. Aber ich hatte mir vorgenommen,
mich über seinen Beruf zu informieren, um mir seinen Tagesablauf besser
vorstellen zu können.
Ich ging also ins Berufsinformationszentrum.
Da ich noch nie dort gewesen war, wusste ich nicht, wonach ich suchen
sollte, und fragte eine Frau, die hinter einer Art Auskunftsschalter stand,
wo ich Informationen darüber finden könne, was man als Chef einer
Werbeagentur macht.
Die Frau fragte: „Wie, möchtest du direkt als Chefin anfangen?“
und lachte.
„Nein, aber ich kenne jemanden, der so was ist, und möchte einfach
wissen, was er in dem Beruf so tut,“ sagte ich.
„Warum fragst du den dann nicht selbst?“ sagte die Frau und lachte
sich halbtot. Ich fand sie ziemlich unverschämt. Aber schließlich
führte sie mich doch in einen großen Raum mit vielen Regalen
voller Ordner und Mappen und meinte, ich sollte unter dem Stichwort „Werbekaufmann“
suchen, vielleicht sei da das Richtige dabei. Als sie wegging, sah ich,
wie sie grinste und den Kopf schüttelte.
Ich dachte, dass sie ruhig auch höflicher hätte sein können.
Dann suchte ich die Ordner nach dem richtigen Stichwort ab. Es gab tatsächlich
eine ganze Menge zum Thema „Werbekaufmann“, aber von den Tätigkeiten
eines Chefs stand nichts dabei. Immerhin erfuhr ich, dass die Berufsbezeichnungen
in dieser Branche überwiegend englisch sind. Dann fand ich es: „Creative
Director“, das war’s. Er konnte nur „Creative Director“ sein.
Ich stellte mir vor, dass er in seiner Werbeagentur ein eigenes Büro
hat – nein, mehrere: ein Vorzimmer mit einer eigenen Sekretärin, dann
sein Privatbüro und noch ein Konferenzzimmer, in das er seine Geschäftspartner
bittet, um über Werbeverträge zu verhandeln. Wenn er das gerade
nicht tut, denkt er sich zündende Werbesprüche und Konzepte für
Kampagnen aus, dafür ist er ja schließlich ‘kreativ’. Die Ausarbeitung
überlässt er dann seinen Untergebenen, die ihn bewundern und
respektieren. Ich konnte lebhaft vor mir sehen, wie er eilig durch die
Flure seiner Agentur geht, um nach dem Fortschritt der Realisierung seiner
neuesten Idee zu schauen, während die Mitarbeiter ehrfurchtsvoll ausweichen,
um ihm nicht im Weg zu stehen und seine kostbare Zeit zu stehlen ...
Eine Stimme riss mich in die Wirklichkeit zurück: „Sag mal, hast
du die Mappe da gekauft oder was? Die wollen vielleicht auch noch andere
haben!“
Ich war irritiert und ärgerlich über die Störung und
beeilte mich, dem Jungen, dem die Stimme gehörte, die Mappe hinzuschieben
und den Raum und das ganze Gebäude zu verlassen. Wenigstens hatte
ich erreicht, was ich wollte: ich konnte mir jetzt genau vorstellen, wie
sein Arbeitstag aussieht, als Creative Director einer Werbeagentur.
Wenn ich ihn morgen im Park treffe, werde ich wissen, wohin er geht
und was er machen wird. Ich freue mich schon darauf.
15. Oktober
Er ist nicht da!
Wenn ich nur wüsste, was los ist! Es macht mich ganz krank!
Heute morgen ist er nicht gekommen. Ich war pünktlich an der Ecke
vor dem Ententeich, aber er kam nicht. Zuerst dachte ich, dass er sich
vielleicht ausnahmsweise verspätet hätte. Aber er kam auch während
der nächsten Stunde nicht.
Ich war so schockiert, dass ich nicht mehr in die Schule gegangen,
sondern den ganzen Vormittag im Park herumgeirrt bin.
Vielleicht ist er krank. Oder seine Mutter ist gestorben. Oder er ist
auf einer dringenden Geschäftsreise. Oder er hat einfach Urlaub genommen.
Oder ihm ist etwas ganz Schlimmes zugestoßen ...
Ich mache mir solche Sorgen.
Wenn ich doch gestern nur nicht schulfrei gehabt hätte. Dann wüsste
ich wenigstens, ob er gestern schon nicht gekommen ist.
Ich halte es nicht aus!
Ich muss wissen, was mit ihm ist!
21. Oktober
Es ist hoffnungslos.
Eine ganze Woche lang ist er nicht gekommen. Ich bin so verzweifelt,
und gleichzeitig kommt mir mein Leben so sinnlos vor. Zwei Tage habe ich
die Schule geschwänzt. Danach habe ich wie üblich die erste Stunde
ausfallen lassen, aber er kam nicht. Ich bekomme nichts mehr mit, ich denke
nur an ihn und zerbreche mir den Kopf, was mit ihm los sein könnte.
Ich habe überlegt, nach ihm zu suchen oder Nachforschungen anzustellen,
aber wie soll man nach jemandem forschen, von dem man nicht mehr weiß
als wie er aussieht und wann er morgens – normalerweise – an einer bestimmten
Stelle vorbeikommt.
Das ist die schlimmste Zeit meines Lebens.
27. Oktober
Fast zwei Wochen jetzt. Er ist immer noch verschwunden. Ich kann nicht
mehr schreiben, es tut zu weh ...
31. Oktober
Ich glaube, ich bin ein neuer Mensch.
Ich habe ihn wiedergesehen. Nicht morgens, sondern nachmittags. Gestern.
Ich wünschte, es wäre nicht wahr.
Gestern morgen war er wieder nicht gekommen – ich war jeden Tag zur
richtigen Zeit an der Ecke vor dem Ententeich gewesen, immer vergeblich.
Nachmittags war schönes Wetter, einer der letzten warmen Herbsttage,
und ich entschied mich, nicht direkt von der Schule nach Hause zu gehen,
sondern noch etwas durch den Park zu spazieren.
Hätte ich das doch nur bleibenlassen.
Auf einem Weg, der nicht zu meinem Schulweg gehört (und auch nicht
zu seinem Arbeitsweg, soweit ich das überblicken konnte, damals),
kam er mir entgegen. Mit einer Frau. Arm in Arm. Und einem Kinderwagen.
Ich dachte, jetzt sterbe ich.
Und genauso fühlte es sich auch an. Ich hörte einfach auf
zu existieren.
Dann sah ich sein Gesicht über mir. Hörte seine Stimme, besorgt:
„Können Sie aufstehen? Um Gottes Willen, Sie sind ja kreidebleich.“
Seine Stimme, zum ersten Mal. Und seine Hände, die mich stützten.
Die Frau stand auch noch da. Und der Kinderwagen.
Komischerweise dachte ich in diesem Moment nur: Ich hätte gedacht,
dass es anders wäre, von seinen Händen berührt zu werden.
„Können Sie gehen?“ Er sah mich an (wie lange hatte ich darauf
gewartet?). Und dann: „Kann es sein ... Haben wir uns nicht schon irgendwo
gesehen?“
„Ich weiß nicht,“ sagte ich, und meine Stimme krächzte.
„Sind Sie vielleicht ... Creative Director?“
„So ein Werbefritze? Nein. Ich arbeite bei der Stadtverwaltung.“
„Dann wohl nicht.“ Natürlich hatte er keine weiße Wohnung
mit impressionistischen Gemälden. Und er hatte wahrscheinlich nie
in seinem Leben ein Klavier aus der Nähe gesehen.
„Ich dachte ...,“ sagte er.
Seltsam, ich war nicht einmal traurig, dass es das alles gar nicht
gab.
„Ich hoffe, Sie sind OK.“ Er hatte einen Schritt von mir weg gemacht,
in Richtung der Frau, die sich zum Gehen wandte.
Ich nickte.
„Danke,“ flüsterte ich und wusste selbst nicht warum, denn er
war schon fort, mit der Frau. Und dem Kinderwagen.
Heute bin ich pünktlich in die Schule gekommen.
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