Die Schokoladenprinzessin

Es war einmal eine Prinzessin, die aß für ihr Leben gern Schokolade. Als Prinzessin hatte sie natürlich auch die Möglichkeit, so viel Schokolade zu essen wie sie nur wollte. Der königliche Hof verfügte über eine eigene Schokoladenfabrik, in der die beste, zarteste Schokolade im ganzen Königreich hergestellt wurde; und davon konnte die Prinzessin gar nicht genug bekommen.
   Leider hatte die Prinzessin jedoch ein Problem: Sie war sehr einsam. Die Abende verbrachte sie meistens allein in ihrem Prinzessinnengemach vor ihrem vergoldeten Fernseher, wenn sie nicht gerade an einem königlichen Empfang oder einem Bankett teilnehmen musste. Ihr größter Wunsch war, einen netten Prinzen kennen zu lernen, mit dem sie gemeinsam schönere Dinge hätte unternehmen können als immer nur fernzusehen. Aber die Prinzen, die ihr bei all den Empfängen und Banketten schon begegnet waren, fanden sie offenbar nicht attraktiv genug – jedenfalls hatte sie bisher nie mit einem von ihnen ein interessantes Gespräch geführt oder sich gar mit einem verabredet.
   Die Prinzessin sagte sich, dass das an der Schokolade liegen müsse. Denn da sie nun einmal so gerne Schokolade aß, sah sie nicht gerade so aus wie ein Fotomodell, sondern war ein wenig mollig. Das musste der Grund sein, warum nie ein Prinz sich für sie interessierte. Diese Erkenntnis deprimierte die Prinzessin so sehr, dass sie noch mehr Schokolade essen musste als sonst, um sich zu trösten.
   Eines Tages ging die Prinzessin gerade in den königlichen Gärten spazieren, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen, als plötzlich wie aus dem Nichts eine sehr schlanke, sehr gut aussehende Frau in einem figurbetonten Nadelstreifenkostüm vor ihr auftauchte. Die Prinzessin blinzelte; sie konnte sich nicht erklären, wo die Frau auf einmal hergekommen war, und dachte, sie habe eine Sinnestäuschung. Aber die Frau stand immer noch da – das heißt, sie stand nicht wirklich fest auf dem Boden, sondern schien zu schweben, was noch eigenartiger war.
   „Wer seid Ihr?“ fragte die Prinzessin ein wenig eingeschüchtert – schließlich passierte es normalerweise eher selten, dass Personen so plötzlich erschienen, ohne dass man sie kommen sah.
   „Ich bin eine Fee“, erwiderte die Frau mit sehr bestimmter, ja, strenger Stimme. „Und ich bin hier, um dir einen Wunsch zu erfüllen. Darüber kannst du dich freuen. Die Wenigsten verdienen heutzutage noch die Gaben der Feen.“ Offensichtlich war sie der Meinung, dass die Prinzessin nicht zu diesen Wenigen gehörte, denn ihr Gesichtsausdruck war ziemlich missbilligend.
   „Wow!“ staunte die Prinzessin, „eine echte Fee? Ich dachte, Feen gibt es nur im Märchen. Und ich habe mir eine Fee immer ganz anders vorgestellt.“
   „Dies hier ist ein Märchen“, versetzte die Fee ungeduldig, „und das hier ist nun mal meine Arbeitskleidung: ich finde es entwürdigend, in wehenden weißen Gewändern herumzuschweben, wie manche meiner Kolleginnen es für nötig halten. Aber kommen wir nun zum Geschäftlichen.“
   „Ich dachte, ich dürfte mir etwas wünschen“, wandte die Prinzessin ein.
   „Unterbrich mich nicht!“ sagte die Fee streng. „Ich sagte bereits, dass ich dir einen Wunsch erfüllen kann; aber heutzutage können wir es uns nicht mehr leisten, den Leuten die Wünsche frei zu geben, deshalb muss ich dafür auch einen Preis fordern. Zwei Wünsche habe ich im Angebot, zwischen denen du wählen kannst. Zum einen kann ich dir ermöglichen, dein ganzes Leben lang soviel Schokolade zu essen wie du nur willst, ohne dass du dabei auch nur ein Gramm zunimmst.“
   Die Prinzessin traute ihren Ohren nicht. Das wäre ja wirklich die Erfüllung all ihrer Träume! Fortan würde sie für immer hübsch sein, die Prinzen würden sie bei den königlichen Empfängen endlich beachten, und sie würde –
   „Aber“, machte die Fee mit erhobenem Zeigefinger diesen schönen Zukunftsvisionen ein vorzeitiges Ende, „der Preis für diesen Wunsch besteht darin, dass du nie einen Mann finden wirst, sondern dein Leben lang allein bleiben musst.“
   Das war für die Prinzessin wie ein Schlag in die Magengrube. Was sollte sie mit all der Schokolade und der Attraktivität, wenn ihr Leben genauso trübsinnig weiterginge wie bisher?
   „Der andere Wunsch, den ich dir erfüllen könnte“, fuhr die Fee fort, „ist: Du wirst bald einen Prinzen kennenlernen, ihn heiraten und glücklich und zufrieden sein bis an euer Lebensende und bla bla bla. Wählst du aber diesen Wunsch, so darfst du nie wieder Schokolade essen, nicht einmal das kleinste Stückchen. Tust du es doch, dann wirst du sofort dick und fett und hässlich werden, dein Prinz wird dich augenblicklich verlassen, und du bist für immer einsam und unglücklich.“
   Die Prinzessin schluckte mühsam. Das war wirklich verzwickt; sie würde es bestimmt niemals ertragen, ihr ganzes weiteres Leben lang auf ihre geliebte Schokolade zu verzichten. Sie hätte nie gedacht, dass die Erfüllung von Wünschen mit derartigen Problemen verbunden sein könnte.
   „Also, was ist nun?“ fragte die Fee ungeduldig. „Schokolade oder Prinz? Lass dir nicht ewig Zeit, ich habe noch andere Wünsche zu erfüllen.“
   Da atmete die Prinzessin tief durch und sagte tapfer: „Ich wähle den Prinzen.“
   „Na also“, meinte die Fee, entnahm einer Mappe, die sie unter dem Arm trug, eine Prise goldenen Pulvers und streute dieses links und rechts von der Prinzessin in die Luft. Das Pulver glitzerte ein wenig und löste sich dann auf. Ebenso die Fee, die genauso schnell und abrupt verschwand, wie sie vorhin erschienen war.
   Die Prinzessin rieb sich die Augen. Sie hatte das Gefühl, aus einem Traum zu erwachen, und war sich nach einer Weile gar nicht mehr so sicher, ob ihre Begegnung mit der Fee wirklich stattgefunden hatte.
   Aber auf einem großen Diner, das am selben Abend im Königspalast veranstaltet wurde, lernte sie tatsächlich einen Prinzen kennen, der ihr sofort sehr sympathisch war. Und nicht nur das: Auch sie gefiel dem Prinzen, und sie sprachen den ganzen Abend miteinander – wobei sie sämtliche Konventionen des Hofs verletzten, denn eigentlich hätte die Prinzessin, ihren repräsentativen Pflichten gemäß, mit allen Gästen wenigstens ein paar Worte wechseln müssen. Ihre Eltern, der König und die Königin, tadelten sie später sehr streng wegen dieses Faux-pas, doch der Prinzessin war das vollkommen egal. Sie war noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen.
   Von diesem Tag an rührte sie keine Schokolade mehr an, so wie es der Bedingung der Fee entsprach. Zunächst fiel ihr das auch nicht weiter schwer. Ihr Herz war durch ihren Prinzen gänzlich in Beschlag genommen, und sie hatte gar kein Bedürfnis mehr nach Süßigkeiten. Dadurch nahm sie sogar etwas ab; und allen fiel auf, wie schön sie geworden war, seit sie ihren Prinzen getroffen hatte.
   Da allerdings im ganzen Königreich bekannt war, wie sehr die Prinzessin Schokolade liebte, und das bald auch dem Prinzen zu Ohren gekommen war, brachte er ihr, um ihr eine besondere Freude zu machen, zu ihren Verabredungen regelmäßig die wunderbarsten Pralinen mit. Der Prinzessin brach es fast das Herz, nicht wenigstens davon kosten zu dürfen – um so mehr, als der Prinz sich natürlich darüber wunderte und enttäuscht war. Meist konnte sie ihn beruhigen, indem sie sagte: „Ich esse sie, wenn ich allein bin; dann kann ich sie am besten genießen, und außerdem erinnern sie mich dann an dich.“ Aber in Wirklichkeit gab sie die Pralinen später derjenigen unter ihren Kammerfrauen, der sie am meisten vertraute, und bat sie, sie in Waisenhäuser oder zu armen Familien zu bringen. Und je öfter das geschah, desto schlechter fühlte sie sich dabei, weil sie ihren geliebten Prinzen so hinterging.
   Eines Abends, als er ihr wieder einmal eine exquisite Schachtel Pralinen mitgebracht hatte und sie wie immer damit in ihren Gemächern verschwunden war, hatte sie ein so schlechtes Gewissen, dass sie sich sagte: Eine winzigkleine Praline kann ich doch wohl essen – ihm zuliebe! Wenn ich die Tür abschließe und die Vorhänge fest zuziehe, wird es die Fee sicher nicht mitkriegen! Sie drehte also den Schlüssel ihres Schlafzimmers zweimal im Schloss um und verdunkelte die Fenster, und um ganz sicherzugehen, schloss sie sich zusätzlich im angrenzenden Badezimmer ein, das keine Fenster hatte. Dann setzte sie sich auf den Rand der Badewanne und öffnete die Schachtel. Aber ihr Finger hatte kaum die Schokolade berührt, als auch schon – plopp! – die Fee in ihrem eng sitzenden Nadelstreifenkostüm vor ihr stand. Die arme Prinzessin bekam einen solchen Schreck, dass sie fast hintenüber in die Wanne geplumpst wäre. Die Pralinenschachtel fiel ihr aus der Hand, und der Inhalt verteilte sich auf dem Badezimmerboden.
   „Ich warne dich!“ sagte die Fee drohend. „Du kennst die Bedingungen. Ein noch so kleines Stückchen, und dein Glück ist ein für allemal dahin. Und glaube nicht, du könntest mich mit so billigen Tricks wie Schlössern oder Vorhängen hereinlegen.“
   Mit diesen Worten verschwand sie auch schon wieder. Weinend sammelte die Prinzessin die verstreuten Pralinen ein; sie nahm sich fest vor, nicht noch einmal so leichtsinnig zu sein.
   Doch durch ihre ständigen Gewissensbisse dem Prinzen gegenüber wurde sie immer unglücklicher. Auf seine besorgten Fragen gab sie ausweichende Antworten; sie konnte ihm nicht sagen, was sie wirklich belastete, weil er ja gewissermaßen ein Teil des Problems war. Sie habe sich entschieden Diät zu halten, sagte sie, und deshalb möge er ihr doch bitte keine Schokolade mehr schenken. Der Prinz akzeptierte das, bat sie aber, es nicht zu übertreiben – tatsächlich war sie durch den ganzen Kummer inzwischen schon regelrecht abgemagert.
   Unterdessen wurde am Hof die Hochzeit der Prinzessin mit dem Prinzen vorbereitet. Es sollte ein rauschendes Fest werden. Alles arbeitete auf Hochtouren: Prächtige Kleider wurden genäht, der Palast wurde von oben bis unten geputzt und geschmückt, in den Küchen wurde gebacken, eingelegt, geschmort und gerührt, und auch die Schokoladenfabrik produzierte für diesen Tag ganz besondere Leckerbissen. Die Prinzessin musste das Brautkleid anprobieren, Gästelisten überprüfen, Einladungen unterschreiben, Saaldekorationen aussuchen, die Tischordnung planen und was es sonst noch vor einer Hochzeit alles zu erledigen gibt; und bei all dem Trubel, der den gesamten Hof erfasst hatte, gerieten die Fee und ihre Bedingungen für eine Weile in Vergessenheit, und die Vorfreude ließ die Prinzessin ihre Betrübnis gänzlich vergessen.
   Dann war der große Tag endlich gekommen. Die Prinzessin sah wunderbar aus in ihrem Brautkleid und strahlte vor Glück, und der Prinz konnte seine Augen kaum von ihr abwenden. Sämtliche Gäste waren der Ansicht, dies sei das schönste und glücklichste Brautpaar, das man je gesehen habe. Und natürlich blieb auch kulinarisch kein Wunsch unerfüllt; Köche und Bäcker des Hofes hatten sich selbst übertroffen, und die Tafeln bogen sich unter den erlesenen Speisen und Leckereien.
   Als ein besonderer Höhepunkt wurde eine Schokoladentorte gereicht, die die Konditoren der Schokoladenfabrik nach einem ganz speziellen Rezept eigens zu Ehren der Prinzessin kreiert hatten. Die Prinzessin wurde ersucht, diese Köstlichkeit als Erste zu probieren, und man reichte ihr ein makelloses Stück auf einem goldenen Teller. In diesem Moment kam der Prinzessin die Fee wieder in den Sinn. Aber sie dachte: Dies ist mein Hochzeitstag – den lasse ich mir von niemandem verderben!
   Und während alle Blicke auf sie gerichtet waren, führte sie mit der Gabel ein Stückchen der wunderbaren Torte zum Mund.
   In diesem Moment erschien die Fee vor ihr. Sie trug wieder ihr Nadelstreifenkostüm, das so gar nicht in diesen fröhlich-festlichen Rahmen passte, und ihr Zeigefinger deutete unheilverkündend auf das Stück Torte. „Ich warne dich zum zweiten Mal“, zischte sie. „Der schönste Tag deines Lebens wird zum schlimmsten werden, wenn du die Bedingungen missachtest. Beim dritten Mal wird es nicht bei einer Warnung bleiben; dann wirst du sehen, wohin dich dein Leichtsinn führt.“
   Die Prinzessin ließ Teller und Gabel fallen und brach weinend zusammen.
   Da offenbar niemand außer ihr die Fee hatte sehen können – die sich wie zuvor in Luft aufgelöst hatte, nachdem sie ihre Drohung ausgesprochen hatte –, glaubten die meisten der Anwesenden an einen Kreislaufkollaps oder etwas Ähnliches. Ein Arzt eilte herbei, die Prinzessin wurde in ein Nebenzimmer getragen und auf ein Sofa gebettet; und nachdem sie ihren Schock überwunden hatte, beschloss sie, ihre Rolle entsprechend weiterzuspielen. „Der ganze Stress mit den Vorbereitungen ... ich hatte mich wohl einfach überschätzt ... aber es geht mir schon viel besser, vielen Dank“, sagte sie lächelnd zu jedem, der sich besorgt näherte und sich nach ihrem Befinden erkundigte. Das war so glaubwürdig, dass sich die Hochzeitsgesellschaft nach einer Weile wieder beruhigte. Nur der Prinz war sicher, dass der Zwischenfall einen anderen Grund haben musste, und machte sich Sorgen um seine Braut. Er ließ die Sache jedoch auf sich beruhen, um sie nicht noch mehr zu verstören, und nahm sich vor, sie in Zukunft, wenn irgend möglich, nicht aus den Augen zu lassen.
   So endete das Fest so fröhlich wie es angefangen hatte, und alle Gäste gingen hochzufrieden nach Hause.
   Die folgenden Tage und Wochen waren für das frisch gebackene Ehepaar mit Reisen und Dankesbesuchen ausgefüllt. Aber als auch das vorüber war und das Paar endlich ein wenig Ruhe hatte – sie lebten jetzt in einem eigenen Schloss, das dem Prinzen gehörte –, wagte der Prinz den Versuch, die Geschichte mit der Schokoladentorte noch einmal anzusprechen.
„Es war doch nicht wirklich ein Kreislaufzusammenbruch?“ fragte er behutsam, denn er wollte seine geliebte Frau nicht in die Enge treiben.
   Doch die Prinzessin schwieg. Sie war immer noch sicher, dass sie ihm nichts von den Bedingungen der Fee erzählen dürfe; täte sie es, wer weiß, dann würde vielleicht der Zauber, der ihn an sie band, seine Wirksamkeit verlieren und der Prinz von ihr getrennt, und er war das Wichtigste, das es in ihrem Leben gab. Wie konnte sie also ehrlich zu ihm sein, wenn sie dadurch vielleicht ihr ganzes Glück zerstören würde, und seins dazu? Aber wie schon vor der Hochzeit litt sie darunter, dass dieses Glück sich auf Verheimlichung gründete. Der Prinz spürte, wie sie sich quälte, und sprach nicht weiter darüber. So lebten sie zufrieden zusammen, aber nicht wirklich glücklich, weil beide wussten, dass stets etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen lag.
   Ein Jahr ging ins Land und ihr erster Hochzeitstag nahte. Zu diesem Anlass wollte der Prinz seiner Frau ein ganz besonderes Geschenk machen. Er wusste, dass sie die Schokolade aus der Fabrik am Hof ihrer Eltern immer ganz besonders geliebt hatte; aber nun, da sie weit entfernt lebten, stellte diese einen fast unerreichbaren Luxus dar. Deshalb ließ der Prinz zum Hochzeitstag eine Auswahl der feinsten Pralinen aus der Schokoladenfabrik liefern – auf dem schnellstmöglichen Transportweg, damit sie noch frisch sein würden, wenn sie einträfen.
   Als er der Prinzessin das Paket überreicht und sie es geöffnet hatte, erschrak sie. Was sollte sie tun? Sie wusste, welche Mühe er sich gemacht hatte, diese Köstlichkeit zu beschaffen; sie war gerührt von der Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte; und schrecklich gern hätte sie die wunderbare Schokolade nach all der Zeit wieder einmal gekostet. Aber es war ganz klar, dass die Fee vor ihr stehen würde, sobald sie die Köstlichkeit auch nur berührte. Und bei ihrem letzten Erscheinen hatte diese ja unmissverständlich klar gemacht, dass sie dieses Mal nicht nur eine Warnung aussprechen würde.
   „Ich danke dir sehr“, sagte sie dem Prinzen. „Aber –“ Und weil sie so ratlos war und so traurig darüber, dass sie ihn wieder würde enttäuschen müssen, begann sie zu weinen.
   Der Prinz nahm sie liebevoll in den Arm. „Verzeih mir“, sagte er. „Ich wusste, dass das Geschenk dich nicht glücklich machen würde. Aber ich möchte das Problem so gern aus der Welt schaffen. Warum fürchtest du das, was du früher bekanntermaßen so geliebt hast, jetzt so sehr wie der Teufel das Weihwasser? Du kannst doch nicht dein ganzes Leben lang zu Tode erschrecken, sobald dir jemand Pralinen schenkt. Ich möchte dir helfen. Erzähl mir, was los ist, und was immer es ist – ich werde dagegen kämpfen.“
   „Wirklich?“ fragte sie. „Ganz egal, was es ist?“
   „Das schwöre ich“, sagte der Prinz fest.
   „Und, egal, was es ist, du bleibst bei mir?“
   „Auch das schwöre ich“, antwortete er.
   Da fand die Prinzessin endlich den Mut zu sprechen. Sie erzählte von ihrer einsamen Jugend, von der Fee und von der Entscheidung, die diese ihr aufgezwungen hatte. Sie erzählte, warum sie die Pralinen, die er ihr mitgebracht hatte, nie hatte annehmen können. Sie erzählte von den beiden späteren Begegnungen mit der Fee und davon, was diese gesagt hatte. Und sie schloss mit den Worten: „Wenn ich also jetzt auch nur eine Praline esse, so gern ich das auch täte, dann werde ich augenblicklich dick, fett und hässlich werden. Und du wirst mich verlassen, und wir werden beide unglücklich sein. Das ist der Preis, den ich für dich bezahlen musste.“
   Zu ihrer großen Verblüffung fing der Prinz an zu lachen.
   „Warum lachst du?“ fragte sie etwas beunruhigt, denn sie fürchtete schon, er habe durch die schrecklichen Offenbarungen aus ihrem Mund den Verstand verloren.
   „Ich lache“, antwortete er und gluckste immer noch, „weil das alles absoluter Unsinn ist. Was auch immer diese Fee für Bedingungen ausgeheckt hat – ich habe hier ja wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und keine Fee der Welt bringt mich dazu, dich zu verlassen, selbst wenn du dich hier vor meinen Augen in die fetteste und hässlichste Frau unter der Sonne verwandeln würdest!“
   „Aber“, wandte die Prinzessin leise ein, „sie hat Macht. Sie hat uns doch zusammengeführt.“
   „Das ist nicht bewiesen“, widersprach der Prinz. „An dem Abend, an dem wir uns zum ersten Mal sahen, war ich aus Gründen am Hof deiner Eltern, mit denen die Fee gar nichts zu tun hatte. Die Einladung hatte ich zum Beispiel lange vor deiner Begegnung mit der Fee bekommen.“
   „Aber ich wäre dir vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn sie nicht ihre Zauberkraft eingesetzt hätte“, argumentierte die Prinzessin weiter.
   Darauf sagte der Prinz nur: „Doch.“
   Und da der Prinzessin jetzt endgültig keine Erwiderung mehr einfiel, nahm sie sehr vorsichtig eine Praline aus der Schachtel. Sie hob sie hoch und versuchte sich vorzustellen, wie himmlisch sie wohl schmecken würde, nachdem sie jahrelang auf diesen Genuss verzichtet hatte. Aber wie sie schon erwartet hatte, erschien nur Sekundenbruchteile später die Fee vor ihr.
   „Ich habe dich zweimal gewarnt“, sagte sie, und ihre Stimme klang wie Gift und Galle. „Wenn du den Preis für meinen Dienst nicht bezahlen willst, wirst du schon sehen, was du davon hast. Dein Unglück ist nicht mehr aufzuhalten.“
   „Und wenn schon“, gab die Prinzessin zurück – ihre Stimme zitterte zwar ein wenig, aber sie klang entschlossen. „Mach mich so dick und hässlich wie du willst. Meinen Prinzen kannst du mir trotzdem nicht nehmen, er bleibt nämlich freiwillig.“ Und herausfordernd schob sie sich die Praline in den Mund.
   Die Schokolade schmeckte sogar noch wunderbarer als sie sich vorgestellt hatte, und darüber vergaß sie einen Moment lang alles, sogar die Fee. Als sie dann wieder hinschaute, sah deren Gesicht seltsam verzerrt aus. Sie versuchte offenbar gerade, ihre Zaubermacht anzuwenden, um den Prinzen gewaltsam von der Prinzessin loszureißen; doch – warum auch immer – es gelang ihr nicht. So blieb ihr nach einigen Augenblicken vergeblicher Anstrengung nur noch, sich mit einem wütenden Aufschrei wieder unsichtbar zu machen. Und niemand sah sie im Schloss der Prinzessin je wieder.
   Die Prinzessin aber war, da die Zauberkräfte der Fee versagt hatten, weder dick noch hässlich geworden, sondern sah genauso aus wie vorher. Das heißt, nicht ganz: Wenn man genau hinsah, konnte man sehen, dass ein Schatten von Angst und Traurigkeit, der bis dahin auf ihrem Gesicht gelegen hatte, jetzt verschwunden war. Aber so genau sah sie ohnehin nur der Prinz. Und von da an lebten die beiden glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende, und niemand verbot ihnen jemals wieder, Schokolade zu essen.
 
 

Zurück zur Übersicht

© 1999-2002 by Rosalyn. www.rosalyn.de. mailto: Rosalyn75@gmx.de