Es ist zwei Uhr, die Mittagspause ist vorbei. Walentin muss wieder an
die Arbeit. Den Vormittag über hat er gerade so viel verdient, dass
er sich als Mittagessen eine warme Mahlzeit und dazu zwei Tassen Tee gönnen
konnte; das ist in den letzten Tagen nicht selbstverständlich gewesen.
Obwohl es mitten in der Vorweihnachtszeit und die Fußgängerzone
von Menschenmassen bevölkert ist, wie Walentin sie noch nie gesehen
hat, widmen die Menschen ihm weniger Aufmerksamkeit als sonst. Sie hetzen
von Geschäft zu Geschäft, als stehe nicht das Fest der Liebe,
sondern eine unerbittliche Strafe für diejenigen bevor, die nicht
in möglichst kurzer Zeit möglichst viel kaufen. In diesen Tagen
macht es nicht besonders viel Freude, ein russischer Straßenmusikant
in einer deutschen Großstadt zu sein.
Walentin bleibt vor dem Fenster einer Buchhandlung in
einer Arkade stehen. Dies ist einer seiner Stammplätze – er hat mehrere,
aber an diesem spielt er am liebsten, weil er hier vor Wind und Wetter
geschützt ist und die Hände nicht so schnell vor Kälte steif
werden. Er stellt den abgenutzten Geigenkasten auf der Erde ab, öffnet
ihn, nimmt den Bogen heraus und dann die Violine. Sie heißt Ljubow,
er hat sie so genannt. Ljubow heißt Liebe. Sie ist das Wertvollste,
das er besitzt.
Mit bedächtigen Bewegungen spannt er den Bogen, streicht dann probehalber die Saiten an und dreht an den Wirbeln.
Die Kälte tut dem Instrument nicht gut, es verstimmt sich schneller
als sonst; und in der letzten Woche sind ihm schon zwei Saiten gerissen.
Walentin würde es gern schonen. Aber Ljubow ist nicht nur sein wertvollster
Besitz, sondern auch das unverzichtbare Grundkapital für seinen Lebensunterhalt.
Sie und sein Talent.
Er beginnt mit einem der deutschen Weihnachtslieder, die
er im vergangenen Jahr noch daheim in Sankt Petersburg gespielt hat: „Stille
Nacht“. Angenehm unkompliziert, um die Geige und seine Finger warmzuspielen.
Letzten Winter hat er es auf der Weihnachtsfeier im Konservatorium gespielt,
sein Professor begleitete ihn auf dem Klavier, und die meisten der Anwesenden
sangen mit – den russischen Text. Wie es auf deutsch geht, weiß er
nicht; hier singt niemand mit. Vereinzelte Passanten gehen langsamer und
lauschen, aber kaum jemand bleibt stehen. Als er endet, ertönt verhaltenes
Klatschen; zwei, drei Leute applaudieren, einer wirft eine Münze in
den offenen Geigenkasten, dann noch jemand. „Spassibo“, sagt er freundlich.
Er könnte auch „Danke“ sagen, so viel Deutsch kann er immerhin inzwischen.
Doch es ist nicht genug, um ein Gespräch führen zu können,
und deshalb bleibt er lieber auf Distanz und vermeidet, dass etwa jemand
auf die Idee kommen könnte, ihn auf deutsch in eine Unterhaltung zu
verwickeln, der er nicht gewachsen wäre. Er fühlt sich hier nicht
zu Hause, gehört nicht hierher, ist fremd hier – in diesem Land, in
dieser Stadt und auf dieser Straße. Seine Heimat ist das Konzertpodium.
Aber in Russland kann ihn sich kein Orchester leisten. Musiker werden dort
nur entlassen, nicht eingestellt, selbst junge, viel versprechende wie
er.
Bevor er weiterspielt, muss er die Violine noch einmal
nachstimmen. Dann lässt er ein russisches Volkslied erklingen. Ob
die Menschen es hier kennen? Eine Frau mit einem kleinen Mädchen an
der Hand kommt vorbei, das Kind bleibt vor ihm stehen und sieht ihn hingerissen
mit riesigen Augen an. Er zwinkert ihm zu und baut einige lustige Triller
und Schnörkel in die ansonsten schwermütige Melodie ein; es ist
seine große Stärke, sein Spiel in Charakter und Intonation dem
jeweiligen Publikum anzupassen, und diese Kleine ist das dankbarste Publikum,
das er heute bisher gehabt hat. Das Mädchen wendet den Blick nicht
von ihm und beginnt glücklich zu lächeln. Seine Mutter sagt etwas
zu ihm, offensichtlich ist sie ungeduldig und möchte gern weitergehen.
Aber dann bleibt sie doch stehen, wobei sie Walentin bewusst nicht anschaut,
und als das Stück beendet ist, drückt sie dem Kind eine Münze
in die Hand. Es wirft das Geldstück in den Geigenkasten und rennt
so schnell zu seiner sich bereits entfernenden Mutter zurück, dass
er keine Gelegenheit hat, ihm wenigstens noch einmal zuzulächeln.
„Spassibo“, sagt er zu einer anderen Frau, die, mit Einkaufstüten
beladen, ebenfalls etwas Geld gegeben hat, ohne ihn dabei anzusehen. So
ist es immer, die Menschen tun einfach so, als gäbe es ihn und seine
Geige gar nicht. Ihre Spenden dienen nur dazu, ihr Gewissen zu beruhigen.
Kaum jemand hört wirklich zu, kaum jemand gibt das Geld aus Dankbarkeit
für die Schönheit des Klangs, den er Ljubow entlockt, kaum jemand
spürt, dass er seine ganze Seele in diese Musik fließen lässt.
Sein Spiel ist seine einzige Möglichkeit, sich zu äußern
in einem Land, dessen Sprache er nicht beherrscht. Aber niemand gibt sich
die Mühe, diese andere Sprache jenseits der Worte zu verstehen.
Nur nicht melancholisch werden, sagt er sich und
wählt als nächstes die Kadenz aus dem ersten Satz von Tschaikowskys
Violinkonzert – etwas Schweres, das Konzentration erfordert. Die Virtuosität
dieses Stückes lockt nun doch ein paar mehr Menschen an, häufiger
klingeln jetzt Münzen in seinem Geigenkasten. Und dann entdeckt er
plötzlich sie.
Er hat sie nicht ankommen sehen, vermutlich war er in
dem Moment zu sehr in sein Spiel vertieft, aber er erblickt ihr Gesicht
sofort, als er den Blick über seine Zuhörer schweifen lässt:
schmal, ernst, von halblangem dunkelblondem Haar umrahmt, nicht schön
oder auffällig, aber er ist sich in diesem Augenblick absolut sicher,
dass sie die Frau ist, nach der er ohne es zu wissen sein Leben lang gesucht
hat. Es ist wie ein Schock, keine Empfindung, die er hätte in Worte
fassen können. Er hat nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt –
hat auch nie wirklich darüber nachgedacht, weil seine Liebe immer
der Musik galt und seiner Geige; ansonsten schien in seinem Leben für
Herzenssachen kein Platz zu sein. Aber da steht sie, und er weiß,
dass sie die Frau seines Lebens ist.
Ganz behutsam, um keinen Stilbruch zu erzeugen, leitet
er die Tschaikowsky-Melodie in eine Improvisation über. Im freien
Spiel hat er daheim am Konservatorium kaum Unterricht gehabt. Seinen Lehrern
kam es eher auf technische Vollendung, ein breites Repertoire und fundierte
Theoriekenntnisse an. Doch er hatte schon immer Freude daran, die vielen
Melodien, die in seinem Kopf herumschweben, durch seine Finger und den
Bogen in die Wirklichkeit strömen zu lassen; er konnte sich darin
verlieren, stundenlang, während er eigentlich an seiner Technik hätte
arbeiten oder einem Stück, in dem er bald geprüft würde,
den letzten Feinschliff hätte geben sollen. Und nun ist es ihm, als
käme ihm die Musik direkt aus dem Herzen. Er hört auf, seine
Umwelt wahrzunehmen, die übrigen Zuhörer, die Kälte, die
Hektik ringsherum. Da ist nur noch die Musik und ihr Gesicht.
Er spielt, wie er noch nie gespielt hat. Er war noch nie
so gut. Sein ganzes Sein liegt in diesem Spiel, dieser Melodie voll tiefen
und unverfälschten Gefühls – er wird eins mit den Klängen,
eins mit ihr. Ohne sich dessen bewusst zu sein, spürt er die Gewissheit,
dass seine Musik unmittelbar in ihr Herz dringe und zwischen ihnen beiden
eine Verbindung herstelle, die unauflöslich ist.
Er hat keine Vorstellung davon, wie lange er auf diese
Weise spielt, verloren in ihr, in der Musik, in Ljubow. Doch irgendwann
bewegt sie sich. Tritt auf ihn zu, beugt sich ein wenig hinab zu seinem
Geigenkasten und lässt eine Münze hineinfallen. Blaugraue Augen
sehen ihn kurz an; ein ausdrucksloser Blick, ein flüchtiges, unverbindliches
Lächeln treffen ihn. Dann geht sie davon. Genau wie alle anderen,
die nichts verstehen.
Es gelingt ihm, seine Improvisation zu einem logischen
Ende zu führen, aber seine Hände zittern. Dass jetzt mehr Applaus
zu hören ist als vorhin, fällt ihm nicht auf, ebensowenig wie
der kleine Haufen Münzen, der sich in seinem Geigenkasten ansammelt.
Er flüstert „Spassibo“, aber es ist ihm gleichgültig, ob die
Leute es hören oder nicht.
Er, Walentin, der durch Musik lebt und für den Musik
das einzige Ausdrucksmittel darstellt, das er hat, um etwas von sich selbst
zu erzählen, hat es nicht geschafft, sich der Frau seines Lebens verständlich
zu machen. Er hat alles gegeben, aber es war nicht genug. Er ist nichts
als ein armer russischer Straßenmusikant, den niemand wirklich braucht.
Als die Menschen sich wieder zerstreut haben und die Eile
der Vorweihnachtszeit wieder ungebremst das Treiben in der Fußgängerzone
bestimmt, kauert Walentin, seine Violine im Arm, unbeachtet auf dem kalten
Steinboden vor dem Buchladen und weint.
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