Mir ist da ein Wort entfallen. Sie kennen das bestimmt: Es liegt Ihnen
auf der Zunge, Sie sind oft ganz nah dran, aber es will Ihnen einfach nicht
einfallen. Sie ärgern sich fürchterlich, verflixt, so alt bin
ich doch noch nicht, und je mehr Sie sich ärgern, desto tiefer versinkt
das Wort in den unergründlichen Klüften Ihres Unbewussten. Bis
es dann auf einmal, plopp, wieder da ist – meistens dann, wenn Sie
die Suche aufgegeben und die Angelegenheit schon längst vergessen
haben, Stunden oder gar Tage später.
Darauf warte ich im Augenblick vergebens. Ja, ich weiß
schon, solange ich warte, wird es höchstwahrscheinlich auch nichts
werden. Aber es muss doch einen Hinweis geben, denke ich immer. Eine vage
Erinnerung an die Vokalfolge beispielsweise oder den Anfangsbuchstaben
des verlorenen Wortes. Oder vielleicht der Rest eines abstrakten Eindrucks,
einer Art synästhetischer Assoziation, die das Wort normalerweise
hervorruft. Oder ein Hauch seiner Betonungsstruktur, seiner Melodie: wie
der kaum wahrnehmbare Staub, der an einem Gegenstand haften bleibt, wenn
ihn ein Schmetterlingsflügel streift.
Doch der Schmetterlingsstaub lässt eben kaum Rückschlüsse
auf die Gestalt, die Farben und die Größe des Tieres zu, das
da vorbeigeflattert ist. Man kann Vermutungen anstellen, aber nichts sagt
einem, wie nahe sie der Wahrheit kommen.
Immerhin, eins weiß ich noch: dass es ein Fremdwort
war. Das schränkt die Suche, schätzungsweise, auf ein paar läppische
hundert Wörter ein – wie viele Fremdwörter enthält die deutsche
Sprache? Wie, zunächst einmal, ist überhaupt der Terminus Fremdwort
zu definieren? „Hendiadyoin“ beispielsweise erscheint uns viel fremdartiger
als „informieren“, obwohl auch letzteres aus einer Fremdsprache übernommen
wurde. Aber ob mein verlorenes Wort nun eines der gängigeren Wörter
nichtdeutschen Ursprungs ist, die jeder kennt, oder eins von der abgehobeneren
Sorte, das verrät mir mein Gedächtnis natürlich nicht. Ich
weiß nicht mal mehr, ob ich genau weiß, was es bedeutet. Oder
aus welcher Sprache es stammt. Damit ist also nicht viel gewonnen.
Da – gerade hatte ich es wieder – beinahe. Es ist zum
Verrücktwerden. Mir ist, als hätte es etwas mit Mathematik zu
tun ... nein, halt, war es nicht doch Medizin? Entschuldigen Sie, wenn
ich Sie langweile, aber Sie wissen ja, wie das ist: wenn man schon so
nahe dran war, dann möchte man den Fisch nicht wieder vom Haken gleiten
lassen. Man hält die Angel krampfhaft fest und denkt an nichts anderes
als daran, auf gar keinen Fall loszulassen, und irgendwann ist der Fisch
dann von Haien zerfressen und halb verwest wie bei Hemingway und man muss
sich fragen, was man eigentlich noch damit anfangen will. Ich habe weder
über Mathematik noch über Medizin mehr als die simpelsten Basiskenntnisse
und auch nicht unbedingt den Ehrgeiz, mein Wissen in diesen Gebieten zu
erweitern. Das verlorene Wort dürfte also für mich, mein Leben
und mein persönliches Wohlbefinden nicht von enormer Relevanz sein.
Dennoch: ich muss die Angel um jeden Preis festhalten.
Vermutlich ist mir der Fisch, pardon, das Wort in einem
Zusammenhang begegnet, in dem es nicht die zentrale Rolle spielte. Bei
der Lektüre eines Zeitungsartikels zum Beispiel, in dem es eigentlich
um etwas anderes ging und das fragliche Wort nur einen Vergleich, eine
Metapher oder einen Verweis darstellte. Oder während des Studiums
– Sie verzeihen, aber was in den Seminaren und Vorlesungen die wesentlichste
Position einnahm, waren selten die Ausführungen des Dozenten, Sie
wissen schon. Warum, glauben Sie, bin ich heute glücklich verheiratet?
Kleiner Scherz am Rande. Aber ich wollte nicht ablenken. Worum es mir geht,
ist lediglich, die Paradoxie der Situation hervorzuheben: Dieses Wort,
an das ich mich so verzweifelt zu erinnern versuche, als hinge mein Leben
davon ab, hat nie irgendeine Bedeutung für mich gehabt und wird sie
auch höchstwahrscheinlich nie haben – abgesehen von diesem einen Moment,
in dem ich es verloren habe.
Ich merke, Ihnen ist das Ganze ein wenig unangenehm, Sie
fühlen sich unbehaglich, weil Sie mir nicht weiterhelfen können,
und gleichzeitig wird Ihnen mein Getue um dieses eine, unwichtige Wort
langsam ziemlich peinlich. Aber sehen Sie, in diesem Moment ist das Wort
tatsächlich
lebenswichtig. Stellen Sie sich doch nur mal vor, ich würde nicht
wieder darauf kommen und mein ganzes restliches Leben verbringen, ohne
es gefunden zu haben!
Ja, gut, da gebe ich Ihnen Recht, ich sollte die Sache
trotzdem etwas entspannter angehen. Eine Weile an etwas ganz anderes denken
beispielsweise, und dann später noch mal weiterüberlegen, wenn
der Kopf wieder frei ist. In der Zwischenzeit würde ich dann wohl
feststellen, dass ich auch ohne das Wort sehr gut zurechtkomme, denn natürlich
würde es mir in keiner Weise fehlen. Und, ha! stellen Sie sich vor,
da fällt es mir doch gerade wieder ein: Anamnesis. Sagen Sie,
was war denn das noch gleich?
© 1999-2002 by Rosalyn. www.rosalyn.de. mailto: Rosalyn75@gmx.de