Die andere

„Severin, wir müssen miteinander reden.“
   „Nicht jetzt, Schatz. Tut mir leid. In fünf Minuten muss ich los zur Generalprobe.“
   Er verschwindet im Schlafzimmer: Severin Glinza, Violinsolist, hoch talentiert, jung, auf dem Höhepunkt einer glanzvollen internationalen Karriere. Neunundzwanzig Jahre alt und seit eineinhalb Jahren verheiratet. Mit mir.
   Ich stehe in der Diele, mache den Mund auf und wieder zu; es hat keinen Sinn. Seit Wochen habe ich es versucht. Unzählige Male habe ich mir im Geist vorgesagt, was ich ihm sagen werde, wie ich ihm das Gespräch einfach aufzwingen, ihn unerbittlich vor die Wahl stellen werde: Sie oder ich. Es kann so nicht weitergehen. Aber er hat sich jedes Mal entziehen können: Konzerte, Proben, Tourneen, Pressetermine. Und immer wieder sie.
   Lange ertrage ich das nicht mehr.
   Er kommt aus dem Schlafzimmer zurück, nestelt an seinen Manschettenknöpfen herum. Auch zu einer Generalprobe erscheint er wie aus dem Ei gepellt im Anzug. Ein prüfender Blick in den Garderobenspiegel, ein lässiges Glattstreichen der Haare, dann der Griff zum Geigenkasten – eine einzige fließende Bewegung, unbewusst, so wie man etwa blinzelt oder die Klinke einer geschlossenen Tür herunterdrückt: eine Bewegung, die für ihn mit dem Verlassen der Wohnung untrennbar verbunden ist. Bevor er die Wohnungstür öffnet, dreht er sich noch einmal um.
   „Ich denke, es dauert nicht so lange diesmal. Vielleicht können wir nachher was essen gehen, was meinst du?“
   Ich schlucke mühsam. Vor sehr, sehr langer Zeit, so scheint es mir, habe ich solchen Illusionen abgeschworen. Es wird doch wieder lange dauern, und er wird mich viel zu spät anrufen, viel zu lange warten lassen, weil er es einfach vergessen wird. Ihretwegen.
   „Das wäre schön“, flüstere ich.
   Er lächelt sein jungenhaftes, offenes Lächeln. Jenes Lächeln, um dessentwillen ich ihm früher nachgereist bin von Konzert zu Konzert. Von dem ich damals glaubte, es gelte mir – bis ich herausfand, dass es in Wirklichkeit immer nur für sie bestimmt war und ist. Dass er es auf mich nur übertragen hat, gewissermaßen. Aber jetzt, da ich es wieder sehe, spüre ich dennoch ein warmes Gefühl der Freude in mir aufsteigen und vergesse für einen Moment das Gespräch, das ich so dringend mit ihm führen muss. Er küsst mich leicht auf die Wange.
   „Toi toi toi“, murmele ich.
   „Wird schon. Ist schließlich nur eine Probe.“
   Mit einem leisen Klicken schließt sich die Tür hinter ihm. Ich höre seine eiligen Schritte auf der Treppe verklingen und bin allein. Aber im Grunde, das ist mir nun klar, bin ich das auch in den seltenen Momenten, in denen er daheim ist. Auch dann sind seine Gedanken bei ihr; ich hatte nie eine Chance gegen sie.
   Früher einmal habe ich sie selbst geliebt. Sie zieht einfach jeden in ihren Bann, man kann ihr nur schwer widerstehen, und sie ist es auch, die ihn zu dem gemacht hat, der er ist. Insofern war ich ihr dankbar, denn ohne ihr Zutun wäre ich sicherlich nicht auf ihn aufmerksam geworden, geschweige denn dass ich mich in ihn verliebt hätte. Ich erkannte zu spät, dass ich dadurch zu einer Rivalin für sie wurde, die sie niemals dulden konnte.
   Sie mit ihm zu sehen wurde immer unerträglicher. Die Zärtlichkeit, mit der er sie ansah, sie sogar berührte – vor meinen Augen. Die unglaubliche Harmonie zwischen ihr und ihm, das Bewusstsein, dass diese beiden füreinander geschaffen sind. Während ich, farblos und uninteressant, ausgeschlossen war, nicht teilhaben konnte an dieser besonderen Art der Gemeinsamkeit. Ich begann sie dafür zu hassen. Selbstverständlich stritt er immer ab, dass irgendwer außer mir ihm etwas bedeute, ich sei schließlich seine Frau. Aber verheiratet zu sein, was bedeutet das schon im Vergleich zu einer solch tiefen, innigen Beziehung.

Natürlich kommt er spät, natürlich wird es wieder nichts mit dem gemeinsamen Essen, und natürlich weiß ich, dass er die Zeit mit ihr verbracht hat. Er ist müde und frustriert, macht ein paar bissige Bemerkungen über den Dirigenten, mit dem er offenbar in vielen Interpretationsfragen uneins ist, und möchte ins Bett gehen. Aber ich habe mir fest vorgenommen, ihn diesmal nicht davonkommen zu lassen. Ich muss es hinter mich bringen, bevor ich daran kaputtgehe, an diesem Abend noch, ganz gleich, ob morgen Premiere ist, ob er Ruhe braucht. Lange genug habe ich auf ihn Rücksicht genommen und auch auf sie. Jetzt kann ich nicht mehr.
   „Severin, bitte lass uns reden. Jetzt.“
   Obwohl ich es als Bitte formuliere, ist mein Ton fester als sonst, und er verfehlt seine Wirkung nicht. Er setzt sich neben mich auf das Wohnzimmersofa. Nimmt meine Hand. „Schatz, ich weiß ja, ich bin viel zu selten für dich da. Und es tut mir auch leid, wirklich. Nur, im Moment ist einfach so wahnsinnig viel los, ich bin völlig ausgebucht – aber ich verspreche dir, demnächst werde ich vorsichtiger sein, nicht mehr jedes Engagement annehmen ...“
   „Darum geht es nicht“, sage ich lächelnd und entziehe ihm meine Hand, sanft, aber bestimmt. „Es geht um etwas Grundsätzlicheres. Ich möchte, dass du dich entscheidest: zwischen ihr und mir.“
   Sein Blick ist völlig verständnislos. Mehr noch, er drückt aus, dass er sich nicht ganz sicher ist, ob ich nicht vielleicht den Verstand verloren habe. Aber ich war selten so klar im Kopf wie jetzt gerade.
   „Hör mal“, sagt er nach einer Weile. „Was immer du dir da einredest, ist absoluter Unsinn. Es gibt keine andere. Du bist meine Frau. Und glaubst du, ich hätte überhaupt die Zeit, mir irgendwelche Eskapaden zu leisten?!“ Der letzte Satz klingt bereits leicht hysterisch. Es ist ihm anzumerken, dass er dieses Gespräch überflüssig findet und es gern so schnell wie möglich beenden möchte. Aber so einfach mache ich es ihm nicht.
   Wortlos stehe ich auf, gehe hinaus in die Diele und hole den Geigenkasten. Ich trage ihn ins Wohnzimmer, lege ihn Severin auf den Schoß und öffne ihn, sodass das rötlichbraune Holz der Violine, auf blauen Samt gebettet, im Licht der Stehlampe warm schimmert. Dann sehe ich ihm fest ins Gesicht.
   „Sie oder ich“, wiederhole ich feierlich.
 
 

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