Hat sich denn alle Welt gegen sie verschworen? Erst versetzt ihre Freundin
sie wegen des kalten Wetters – als ob Kaufhäuser und Cafés
nicht geheizt wären –, und dann begegnen Sarafina hier in diesen Trubel
in der Fußgängerzone scheinbar nur Arm in Arm laufende Paare
und fröhliche Familien. Sogar auf dem Weihnachtsmarkt, den sie nun
erreicht, singt ein Chor das Lieblingsweihnachtslied ihres Vaters; zwar
singen sie es auf deutsch und etwas schief, aber Sarafina erkennt „Les
Anges“ natürlich sofort. Eigentlich wollte ihr Vater sie dieses Wochenende
besuchen, aber nun muss er doch wieder einmal arbeiten... weshalb nur muss
immer ihr Vater einspringen, wenn etwas schief geht... vermutlich stimmt
das auch gar nicht, und er ist nur leider eben an diesem Wochenende an
der Reihe oder einfach zu gutmütig, um die Bitte eines Kollegen, ihn
zu vertreten, abzuschlagen... aber sie hatte sich doch so gefreut, ihn
endlich wieder zu sehen und ihm Leipzig zeigen zu können. Nun wird
sie das Wochenende wohl wieder damit zubringen, Krimis zu lesen und alleine
spazieren zu gehen, während alle ihre Freunde aus der Uni nach Hause
gefahren sind; für Sarafina ist der Weg zu ihren Eltern einfach zu
weit, um häufige Wochenendbesuche bei ihnen machen zu können
– das ist eben ein Nachteil, wenn man seine Universität nicht nach
der Entfernung von zu Hause wählt, sondern nach ihrem Angebot im jeweiligen
Studienfach.
Rundherum ertönen fröhliche Stimmen und Weihnachtslieder,
die jetzt, Mitte Dezember, bereits nerven. Sogar der junge Geiger unter
den Arkaden des Rathauses beginnt „Stille Nacht“ zu spielen; allerdings
spielt er einen zweistimmigen Satz, der irgendwie sehnsüchtig klingt.
Sarafina verspürt einen kleinen Stich im Herzen,
nicht einmal so etwas bringt sie zu Stande. Warum nur hat sie erst so spät
angefangen, Geige zu spielen, und das auch nur für wenige Jahre –
sie kann schon froh sein, wenn die Intonation einigermaßen stimmt,
von Mehrstimmigkeit oder individuellem Ausdruck kann bei ihr keine Rede
sein.
Den Geiger hat sie hier noch nie gesehen, obwohl sie doch
häufiger hier vorbeikommt, was ihn wohl hierher verschlagen hat? Jetzt,
da er sein Lied beendet hat und kurz seinen Kopf hebt, um einem Passanten
dankend zuzunicken, der ihm eine Münze in den alten Geigenkasten wirft,
wirkt er plötzlich verloren, als gäbe ihm nur der enge Kontakt
zu seinem Instrument die Sicherheit und Ausstrahlung, die sein Spiel so
erfüllt hat. Als er wieder zu spielen beginnt, eine melancholische
Melodie, die Sarafina nicht kennt, tritt sie etwas näher und beobachtet
ein kleines Mädchen, das fasziniert vor dem Geiger stehen bleibt;
täuscht sie sich, oder wird die Melodie jetzt freudiger, als ginge
der Musiker auf sein junges Publikum ein?
Nachdem auch dieses Stück zu Ende gegangen ist und
das kleine Mädchen eine Münze in den Geigenkasten geworfen hat,
die ihm seine etwas ungeduldige Mutter zugesteckt hat, gehen auch diese
beiden Zuhörer weiter und der Geiger steht alleine da und stimmt sein
Instrument nach.
Auch Sarafina wendet sich ab und will in ihr warmes Zimmer,
doch als er erneut zu spielen beginnt, ist sie wie gebannt... ist das nicht
aus dem Violinkonzert, das ihr Bruder so gerne hört, war es nicht
von Tschaikowsky? Wieso spielt er so etwas hier in der Kälte? Mit
diesem schwierigen Stück könnte er doch einen ganzen Saal füllen!
Das wäre doch auch besser für seine Geige. Denn soviel weiß
Sarafina noch aus dem Geigenunterricht, eine Geige braucht, um gut zu klingen,
Temperaturen über 10°C, und große Temperaturschwankungen
lassen das Holz brüchig werden; und auch die Saiten mögen Kälte
nicht; ihr selber sind einmal im Winter gleich zwei gerissen, als sie versuchte,
sie direkt nach einem Transport durch die Kälte zu stimmen. Warum
tut er das sich und seinem Instrument an? Man erkennt doch an seinem Spiel,
dass er sie liebt; wie er mit ihr zu verschmelzen scheint, wenn seine schlanken
Finger ihren Hals liebkosen, seine Wange sanft an ihrem klingenden Körper
ruht und er mit seinem Bogen gefühlvoll ihre Saiten streicht.
Ohne es bewusst entschieden zu haben, ist Sarafina zum
Geiger zurückgekehrt und steht ihm nun gegenüber, als ein kurzer
Blick von ihm sie streift, in dem Liebe aufleuchtet – zur Musik? zum Instrument?
wohl nicht zu ihr. Langsam und gekonnt geht sein Spiel in eine Improvisation
über. Ob wohl außer ihr jemand etwas von dieser Meisterleistung
erahnen kann? Spielt er nur für sie? Allerdings ist die Menge, die
der Musik lauscht, größer geworden und einige nicken anerkennend,
doch als das Stück langsam ausklingt, wenden sich die meisten Menschen
ab und gehen ihrer Wege. Wenige werfen einige Münzen in den Geigenkasten;
der Geiger dankt auf russisch, jedenfalls meint Sarafina „Spassibo“ verstanden
zu haben.
Wie soll sie ihm für seine Musik danken, wenn er
kein Deutsch versteht? Kann er Englisch oder Französisch?
Stumm wirft sie ein Fünfmarkstück in den Geigenkasten
und sieht ihn an. In seinen Augen, die sie unter dunklen Haarfransen hervor
anblicken, liest sie Sehnsucht und Einsamkeit.
Langsam dreht sie sich um und geht – alleine.
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