Laure rennt die acht Etagen nach unten zum Briefkasten. Hoffnungsvoll,
zuversichtlich. Wie jeden Morgen. Sie weiß inzwischen ganz genau,
wann die concierge die Post für die Bewohner des obersten Stockwerks
in die entsprechenden Briefkästen verteilt, sie braucht gar nicht
mehr auf die Uhr zu sehen – ein Glück nur, dass die Post immer so
früh kommt, dass Laure dadurch keinen Unterricht verpasst.
Mit vor Aufregung zitternden Fingern schließt sie
den kleinen Blechkasten auf, an dem auf einem eilig mit der Hand beschrifteten
Papierschildchen ihr Name steht, und öffnet ihn. Nichts. Vergeblich
gewartet, vergeblich gehofft, wie jeden Morgen.
Langsam, bedrückt beginnt sie die acht Etagen wieder
hinaufzusteigen. Warum schreibt Pascal nicht? Es ist jetzt fast vier Wochen
her, dass sie sich zum letzten Mal gesehen haben und er sagte: „Natürlich
schreibe ich dir. Du glaubst doch nicht, dass ich dich vergessen werde,
nur weil du nach Paris gehst.“
Nein, das hat sie nie geglaubt, keinen Moment lang. Ganz
im Gegenteil. Einzig und allein der Glaube daran, dass er an sie denkt,
dass er auf jeden Fall schreiben wird, dass es nur irgendwelche unvorhersehbaren
und ungewollten Umstände gewesen sind, die ihn bis jetzt daran gehindert
haben, einzig dieser Glaube hält sie aufrecht und lässt sie jeden
Morgen mit derselben neuen Zuversicht die acht Treppen hinunterspringen,
sicher, dass jetzt endlich, endlich der Brief da sein wird, der ihr erklären
wird, warum es so lange gedauert hat. Sie wird ihn lesen, lachend und weinend
– weinend aus Freude und ein bisschen auch deshalb, weil der Schreiber
des Briefes so weit weg ist; und lachend, weil Pascal ein Talent für
komische Formulierungen hat, die sie bis jetzt immer aufheitern konnten,
auch wenn sie noch so betrübt war. Natürlich wird er das auch
mit diesem Brief wieder schaffen. Mit einem Schlag wird sie die lange Zeit
des vergeblichen Wartens vergessen haben, sie wird sich nur noch in der
Freude über den Brief sonnen, wird ihn ständig bei sich tragen
und immer wieder lesen.
So hat sie es sich bis jetzt jedenfalls vorgestellt. Sie
hat sich zu diesen Gedanken gezwungen, während sie sich die acht Treppen
wieder hinaufschleppte, ohne Energie, quälend langsam Stockwerk für
Stockwerk, weil irgend etwas ihr sagte, dass sie es sonst nicht bis ganz
oben schaffen würde. Aber heute gelingt ihr der Zwang nicht. Als sie
die zweite Etage erreicht hat, fragt sie sich zum ersten Mal: Was, wenn
nicht?
Sie kann die Frage nicht zu Ende denken, nicht bis zum
Äußersten. Diese Möglichkeit darf es nicht geben. Er muss
schreiben, und er wird schreiben. Pascal ist schließlich ihr Freund.
Er liebt sie. Und sie könnte ohne ihn nicht leben. Was sollte sie
denn hier in der Hauptstadt, was hätte sie von der erhabenen Schönheit
der historischen Bauten und prachtvollen Straßen ohne das Bewusstsein,
dass es jemanden gibt, wenn auch weit weg, der sie liebt und an sie denkt?
Irgendwann wird er sie besuchen und sie wird all die berühmten, großartigen
Orte hier mit ihm zusammen besichtigen, und erst dann wird sie die Schönheit
der Stadt richtig wahrnehmen können. Erst dadurch, dass er bei ihr
ist, wird sie es genießen können, in Paris zu sein. Bis dahin
wird alles irgendwie unvollständig sein, mangelhaft.
Auf der dritten Etage bleibt sie kurz stehen; hier wohnt
eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die manchmal auf dem Treppenabsatz
spielen. Aber natürlich sind sie jetzt in der Schule, und so gelingt
es ihr nicht, sich von einem kleinen penetranten Gedanken abzulenken: Es
kann doch nicht nur von einer einzigen Person abhängen, ob man Schönheit
wahrnehmen kann oder nicht. Prüfend blinzelt sie nach oben, wo
die Sonne noch nicht hoch genug steht, um über die scheinbar endlos
in den Himmel ragenden Dächer in den Hinterhof zu strahlen. Hier und
jetzt ist wirklich nicht viel von jener viel beschworenen Schönheit
der Hauptstadt spürbar, ringsum nur Beton, die enge schmale Wendeltreppe,
der kahle Hinterhof mit den Mülltonnen und die schmucklosen Rückwände
der mächtigen vielstöckigen Wohnhäuser. Aber wenn sie oben
ankommt, in ihrem winzigen Zimmer unter dem Dach, dann hat sie freien Blick
über die Dächer von Paris, auf den Eiffelturm und Sacré-Cœur,
und wenn sie das Dachfenster öffnet und sich über ihr nur noch
den Himmel wölbt, fühlt sie sich unglaublich frei. Und dann,
ab und zu, packt sie unvermittelt ein intensives Glücksgefühl,
das Wissen, dass dies hier der richtige Ort für sie ist. Dass es trotz
der räumlichen Entfernung zu Pascal und trotz aller Zweifel, die sie
so lange plagten und auch jetzt noch häufig plagen, eine gute Entscheidung
war, ihr Studium an der Sorbonne anzutreten.
Sie hat den vierten Stock erreicht, in dem eine Frau mit
zwei wuscheligen weißen Hunden lebt. Sie haben Laure nur an den ersten
paar Tagen, die sie hier wohnte, verbellt, inzwischen mögen sie sie
offenbar, jedenfalls lassen sie sich gerne von ihr das Fell kraulen, wenn
sie ihnen auf der Treppe begegnet. Aber auch von ihnen kann Laure jetzt
keine Spur entdecken. Sie steigt also weiter empor, mühsam, langsam.
Dieses Glücksgefühl, an das sie sich gerade erinnert hat, muss
eine Illusion sein. Sie kann sich nicht vorstellen, es auch dann empfinden
zu können, wenn sie hier vollkommen allein wäre. Wenn sie und
Pascal, rein hypothetisch natürlich, sich zum Beispiel trennen würden.
In diesem Fall, da ist sie sich sicher, wäre sie völlig unfähig,
sich überhaupt jemals wieder glücklich zu fühlen.
Auf der fünften Etage öffnet sich die Sicht
auf einen wunderschönen Garten, der zu einem der Häuser auf der
gegenüber liegenden Seite des Blocks gehört. Wieder bleibt Laure
ein Weilchen stehen, um den Anblick dieser grünen, mit unzähligen
bunten Blumen übersäten Oase mitten in der Großstadt auf
sich wirken zu lassen, und ertappt sich auf einmal bei dem Gedanken: So
ein Unsinn. Natürlich würdest du wieder glücklich sein können.
Ein Mann ist nicht die Welt.
Pascal schon, denkt sie fast bockig. Aber gleichzeitig
wird ihr plötzlich klar, wie lächerlich das ist. Sie befindet
sich in einer atemberaubenden Stadt voller Wunder, und anstatt sich darauf
einzulassen, diese Stadt zu entdecken, zu erobern und mit allen Sinnen
zu genießen, verschwendet sie ihre Zeit damit, auf einen Brief zu
warten!
Seit sie denken kann, hat sie davon geträumt, hier
zu studieren. Das geht ihr durch den Kopf, während sie die Steinstufen
weiter hinaufsteigt. Und dass sie es geschafft hat, ist nicht nur dem Glück,
sondern durchaus auch harter Arbeit zu verdanken. Auf dem collège
und später am lycée war es ihre beste, wirksamste Motivation
zum Lernen, sich zu sagen, dass sie all diese Mühe eines Tages an
die Sorbonne bringen würde. Auch als sie Pascal kennenlernte, hat
sie sich von diesem Ziel nicht abbringen lassen. Nun befindet sie sich
mitten in der Erfüllung ihres Lebenstraums und ist im Begriff, ihn
für ihre Liebe zu opfern.
Vielleicht wäre es das wert, überlegt sie, auf
der sechsten Etage angekommen, wenn er wenigstens sein Versprechen hielte
und sich melden würde. Aber so werfe ich mich weg. Sie erschrickt
beinahe vor diesem Gedanken, es widerstrebt ihr ganz fürchterlich,
ein solches Konzept mit Pascal in Verbindung zu bringen, und doch ... abstreiten
kann sie es nicht mehr. Erinnerungen tauchen auf, die sie sonst lieber
verdrängt: an Pascal, der sie nicht alleine gehen lassen will, der
sich deswegen ebenfalls der Aufnahmeprüfung für die Sorbonne
unterzieht, aber kläglich scheitert. Und der anschließend versucht,
sie zu überzeugen, dass sie bei ihm bleiben solle, sie könne
doch auch hier studieren, in ihrem kleinen provençalischen Heimatort,
er studiert hier ja schließlich auch seit einem Jahr, warum muss
es denn unbedingt die Sorbonne sein? Es ist ihm nicht gelungen, sie zu
überreden, aber sie hat deswegen immer ein schlechtes Gewissen gehabt.
Warum eigentlich?
Ich bin hier, denkt sie im siebten Stock, weil ich hier
sein will, und nicht, um auf einen Brief zu warten. Von hier aus kann man
bereits über die gegenüber liegenden Dächer hinüberschauen,
auf die weite grüne Fläche des Bois de Boulogne. Sie bildet sich
ein, eine kühle Brise von dort herüberwehen zu spüren, aber
vielleicht ist das auch nur Wunschdenken, das Treppensteigen hat sie erhitzt.
Entschlossen nimmt sie die letzten Stufen in Angriff. Hier, auf dem letzten
Stück zum Dachgeschoss, wo sich die chambres de bonne befinden,
wird die Treppe besonders eng, bevor sie ganz oben in einem überdachten
Flur mündet, der sich wiederum in einem schmalen Balkon fortsetzt.
Laures Zimmer ist das letzte. Sie geht den Balkon bis zum Ende entlang
und schiebt den Schlüssel ins Schloss ihrer Zimmertür; aber bevor
sie sie öffnet, dreht sie sich noch einmal um und lässt den Blick
über die Dächer schweifen. Seltsam, wie vertraut ihr dieser Anblick
bereits ist, obgleich sie doch noch keine vier Wochen hier lebt.
Ich rufe ihn an, denkt sie entschlossen, es ist mein gutes
Recht zu wissen, wieso er sich nicht meldet. Er wird verstehen, dass sie
sich Sorgen macht, die Ungewissheit nicht länger erträgt. Dann
wird er alles erklären, auf seine witzige, unbeschwerte Art, die sie
immer zum Lachen bringt. Und dann wird sie beruhigt und heiter zur Universität
fahren. In ein paar Minuten wird alles gut sein.
Sie kramt ihr Handy hervor. Pascals Nummer ist gespeichert,
sie braucht nur zweimal auf eine Taste zu drücken. Nach einer Weile
ertönt das Freizeichen. Es ertönt ziemlich lange. Sollte er etwa
schon aus dem Haus sein, in der Uni? Zu dieser frühen Stunde sähe
ihm das kaum ähnlich –
„Allô“, klingt endlich, nach einer schieren
Ewigkeit, seine Stimme aus dem Hörer.
„Pascal?“ Ihr Herz hämmert. „Hier ist Laure – ich
wollte –“
„Ah, Laure, hallo.“ Seine Stimme wirkt eigenartig gezwungen.
Aber vielleicht entsteht dieser Eindruck auch nur durch die Klangverzerrung
bei der Übertragung. „Nett, dass du, äh, dass du dich meldest.
Wie geht’s? Ich hab leider nicht viel Zeit, aber –“
„Pascal, ich wollte nur wissen – bitte fühl dich
jetzt nicht gedrängt oder so. Aber ich hab mir Sorgen gemacht, weil
du nicht schreibst.“ Eigentlich hat sie noch sagen wollen: Du hattest
es doch versprochen, aber sie schluckt diesen letzten Satz hinunter;
vage beschleicht sie das Gefühl, auch so schon viel zu viel gesagt
zu haben.
„Äh, ja, ähm“, hört sie seine Stimme in
gequältem Tonfall, der nun ganz sicher nicht mehr auf irgendwelche
Phänomene der Sprachübertragung zurückzuführen ist.
„Ich hab ja gesagt, ich hab wenig Zeit, deswegen ... Aber mach dir keine
Sorgen. Ich ruf dich bald an.“ Und dann, zu ihrer größten Überraschung,
erklingt im Hintergrund eine zweite, eine ihr völlig unbekannte weibliche
Stimme, die sagt: „Bist du soweit, Pascal? Wir müssen uns beeilen,
die anderen warten schon.“
„Ich muss Schluss machen, tut mir leid“, sagt Pascal,
offenbar in der Hoffnung, sie habe die andere Stimme nicht gehört.
„Also, ich melde mich, einverstanden?“
„Das brauchst du nicht“, erwidert sie, langsam und deutlich,
sie ist selbst erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klingt. „Du brauchst nicht
anzurufen. Du brauchst auch nicht mehr zu schreiben. Was ich wissen wollte,
weiß ich jetzt. Leb wohl.“ Ihr Finger legt sich wie von selbst auf
die Taste, die die Verbindung trennt.
Dann sitzt sie da wie betäubt, die Augen geschlossen,
sie weiß nicht, wie viel Zeit vergeht. Aber als sie die Augen irgendwann
wieder öffnet, sieht sie die Sonnenstrahlen durch das Fenster hereinfallen
und erkennt das Meer von Zinkdächern und den Eiffelturm mitten darin,
das Wahrzeichen der schönsten Stadt der Welt, und sie weiß,
wohin sie gehört.
Sie atmet tief durch und denkt: Jetzt komme ich, Paris.
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